Urteil Nr. B 8 SO 1/17 R des Bundessozialgericht, 2018-08-28

Judgment Date28 August 2018
ECLIDE:BSG:2018:280818UB8SO117R0
Judgement NumberB 8 SO 1/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialhilfe - Hilfe zur Pflege - häusliche Pflege - Vermögenseinsatz - kleinerer Barbetrag - angemessene Erhöhung - besondere Notlage - Wertungen des § 87 SGB XII - Ansparung aus einer Vollzeiterwerbstätigkeit - dauerhafte Schwerstpflegebedürftigkeit - Orientierung an § 12 Abs 2 SGB II
Leitsätze

Einem in Vollzeit erwerbstätigen, schwerstpflegebedürftigen Empfänger von Leistungen der Hilfe zur Pflege ist von seinem aus dem Erwerbseinkommen angesparten Vermögen ein Freibetrag zu belassen, der dem eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach dem SGB II entspricht.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. März 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit sind Ansprüche auf Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe für die Zeit vom 1.7.2013 bis 31.1.2014, die der Beklagte unter Hinweis auf einzusetzendes Vermögen abgelehnt hat.

Der 1964 geborene Kläger ist als beamteter Studienrat in Vollzeit beschäftigt. Er ist aufgrund einer infantilen Zerebralparese schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 und unter Zuerkennung der Nachteilsausgleiche aG, RF und H. Er war im streitbefangenen Zeitraum pflegebedürftig nach der Pflegestufe III gemäß §§ 14, 15 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI; in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung). Die notwendige Pflege und Assistenz rund um die Uhr stellte er durch von ihm beschäftigte Pflege- und Assistenzkräfte sicher. Der beklagte überörtliche Träger der Sozialhilfe gewährte ihm ua für die Zeit vom 1.1.2010 bis zum 31.12.2010 Leistungen der Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten und zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben sowie der Hilfe zur Pflege für persönliche Assistenten "in der Ausgestaltung als Arbeitgebermodell" (Bescheide vom 16.9.2010 und vom 25.10.2010); ab März 2011 gewährte er solche Leistungen ohne schriftliche Bescheide zu erlassen. Er überwies monatliche "Abschlagszahlungen" in Höhe von 9600 Euro an den Kläger; in der Folge erfolgte in unregelmäßigen Abständen eine endgültige Abrechnung.

Der Kläger verfügte am 31.12.2012 über Vermögen aus einer Kapitallebensversicherung (Rückkaufswert am 31.3.2012 15 821,84 Euro) sowie einem Bausparvertrag (Guthaben in Höhe von 1754,48 Euro). Nachdem dem Beklagten dies spätestens im Mai 2013 bekannt geworden war, stellte er die Gewährung der Leistungen zum 1.7.2013 ein, weil der Kläger abzüglich eines Schonvermögens in Höhe von 2600 Euro das Vermögen in Höhe von 14 976,30 Euro einzusetzen habe (Bescheid vom 14.6.2013; Widerspruchsbescheid unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter vom 17.7.2013). Im November 2013 verwertete der Kläger die Kapitallebensversicherung und erhielt einen Betrag von 20 717,17 Euro. Der Beklagte nahm am 31.1.2014 die Zahlung von Leistungen wieder auf.

Die auf Leistungen der Sozialhilfe ab 1.7.2013 gerichtete Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Köln vom 15.10.2014; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen <NRW> vom 17.3.2016). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger habe für die Zeit vom 1.7.2013 bis zum 31.1.2014 keinen Anspruch auf Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) iVm § 55 Abs 2 Nr 6, 7 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) für persönliche Assistenten in der Ausgestaltung als sog Arbeitgebermodell. Er erfülle zwar die persönlichen Voraussetzungen, sei aber nicht hilfebedürftig, weil er über zu berücksichtigendes Vermögen verfügt habe.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er macht einen Verstoß gegen § 90 Abs 2 Nr 9 SGB XII und gegen § 90 Abs 3 SGB XII geltend.

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. März 2016 und des Sozialgerichts Köln vom 15. Oktober 2014 sowie den Bescheid vom 14. Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten für die Hilfe zur Pflege und die Eingliederungshilfe für die Zeit vom 1. Juli 2013 bis zum 31. Januar 2014 zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Zu Unrecht ist das LSG davon ausgegangen, dass den Ansprüchen des Klägers im streitigen Zeitraum zu berücksichtigendes Vermögen uneingeschränkt entgegenstand.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 14.6.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.7.2013 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte die Übernahme der beantragten Kosten abgelehnt hat. In zeitlicher Hinsicht hat der Kläger die Klage nach Weitergewährung der Leistungen durch den Beklagten auf die Zeit vom 1.7.2013 bis zum 31.1.2014 begrenzt. Sein Begehren verfolgt er richtigerweise mit der auf Geldleistungen gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, 4, § 56 SGG). Zutreffend hat das LSG ausgeführt, dass die vom SG vorgenommene Umstellung auf ein Feststellungsbegehren nicht dem erklärten Willen des Klägers entsprach, weil sich der angefochtene Verwaltungsakt nach dem Einsatz des Vermögens nicht erledigt hatte und der Kläger weiterhin die Auszahlung einer Geldleistung begehrt hat, auch wenn er zwischenzeitlich sein Vermögen aufgebraucht hatte. Unmittelbar auf eine Geldleistung gerichtet ist der Anspruch des Klägers allerdings nur wegen der Leistungen der Hilfe zur Pflege, die er durch von ihm selbst beschäftigte Pflegekräfte sicherstellt (vgl § 66 Abs 4 Satz 2 SGB XII in der Fassung durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB vom 27.12.2003 <BGBl I 3022>; im Folgenden alte Fassung <aF>).

Der Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe, die sowohl als Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben als auch als Hilfen zum selbstbestimmten Wohnen und zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben in Betracht kommen und die ggf im Wege eines Schuldbeitritts zu gewähren gewesen wären (vgl nur BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr 9, RdNr 25 ff), richtet sich hier aber ebenfalls auf eine Geldleistung. Der Kläger hat sich sogleich nach Ablehnung die Leistungen der Eingliederungshilfe selbst beschafft und bereits im Widerspruchsverfahren die Erstattung der ihm tatsächlich entstandenen Kosten nach § 15 Abs 1 Satz 4 SGB IX geltend gemacht. Diesen Antrag auf Erstattung kann er zulässigerweise im Wege der Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgen (vglBSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, RdNr 9 und 16 f; Bundessozialgericht <BSG> Urteil vom 20.4.2016 - B 8 SO 20/14 R - RdNr 12; anders die Konstellation in BSGSozR 4-3250 § 14 Nr 24 RdNr 12). Dabei ist auch die Verurteilung zur Leistung dem Grunde nach zulässig (vgl § 130 Abs 1 Satz 1 SGG), wie sie der Kläger nach Präzisierung seines Klageantrags im Revisionsverfahren beantragt. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des LSG scheidet die Gewährung von Geldleistungen "im Arbeitgebermodell" wegen der Eingliederungshilfe dagegen mangels Rechtsgrundlage aus; denn der Kläger hat ausdrücklich keine budgetierte Geldleistung mit einer Obergrenze gewählt (vgl § 17 SGB IX; hier in der Fassung des Gesetzes zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht vom 21.3.2005 <BGBl I 818>, im Folgenden aF; insbesondere § 17 Abs 3 SGB IXaF); die erbrachten Leistungen sind vielmehr im Einzelnen abgerechnet worden. Da nur die Erstattung von bereits verauslagten Kosten im Streit steht, ist schließlich eine Beiladung der Assistenzkräfte nicht erforderlich (vgl nur BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, RdNr 16).

Der Senat kann schon nicht abschließend feststellen, ob der Beklagte vorliegend als örtlich und sachlich zuständiger Träger gehandelt hat. Das LSG hat zwar als Grundlage für die sachliche Zuständigkeit des Beklagten § 97 Abs 1, 2 SGB XIIiVm §§ 1, 2 Abs 1 Buchst a Landesausführungsgesetz zum SGB XII für das Land NRW (AG-SGB XIINRW) und § 2 Abs 1 Nr 1 Buchst a, Nr 2 Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes NRW(AV-SGB XIINRW; beide vom 16.12.2004 NRW 816 bzw 817> hier in der Fassung vom 5.3.2013 bzw vom 11.5.2009) herangezogen, ohne aber ausreichende Feststellungen zur Art der erbrachten Leistung zu treffen, die seine Annahme einer Zuständigkeit des Beklagten nach diesen Vorschriften nachvollziehbar werden lassen. Eine Zuständigkeit nach § 2 Abs 1 Nr 1 Buchst a AV-SGB XIINRW liegt jedenfalls nicht nahe, da weder eine Hilfegewährung in einer teilstationären noch in einer stationären Einrichtung erkennbar wird, noch ersichtlich ist, dass der Kläger zum dort genannten Personenkreis (mit geistigen und/oder seelischen Behinderungen) gehört.

Die landesrechtlich geregelte sachliche Zuständigkeit nach § 2 Abs 1 Nr 2 AV-SGB XIINRW, auf die sich das LSG daneben bezogen hat, bestimmt eine umfassende Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe für alle Leistungen der Eingliederungshilfe und weitere Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII für den Fall, dass Leistungen der Eingliederungshilfe mit dem Ziel der Ermöglichung selbstständigen Wohnens zu erbringen sind. Sind neben der Hilfe zur Pflege und den Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben aber keine weiteren Hilfen zu erbringen, dürfte auch diese Zuständigkeit des Beklagten vorliegend nicht gegeben sein. Schon für die Klärung der Zuständigkeit ist damit eine Abgrenzung der (nachrangigen) Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten und zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (vgl § 55 Abs 2 Nr 6 und 7 SGB IXaF) von der Hilfe zur Pflege erforderlich (zur Abgrenzung im Einzelnen später), die das LSG nicht...

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