Urteil Nr. B 9 BL 1/20 R des Bundessozialgericht, 2021-06-10

Judgment Date10 Junio 2021
ECLIDE:BSG:2021:100621UB9BL120R0
Judgement NumberB 9 BL 1/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sächsisches Landesblindengeld - Wohnsitz im EU-Ausland - in Österreich lebende deutsche Rentnerin - europäisches Koordinierungsrecht - soziale Sicherheit - Leistungsexport - Leistung bei Krankheit - Wohnsitzwechsel - letzter inländischer Wohnsitz als Anknüpfungspunkt - sozialgerichtliches Verfahren - Einvernehmensanwalt - Fortwirkung der Einvernehmenserklärung im Revisionsverfahren - Schriftform der Revisionsschrift - österreichische Rubrumsunterschrift keine Unterschrift - Ausschluss von Entwürfen - Annahme einer willentlichen Entäußerung
Leitsätze

1. Deutsches Landesblindengeld ist EU-rechtlich eine Geldleistung bei Krankheit.

2. Geldleistungen bei Krankheit an Rentner mit nur einer Rente aus einem Mitgliedstaat werden vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats nach dessen nationalen Rechtsvorschriften erbracht, in dem der Träger der Sachleistungen bei Krankheit seinen Sitz hat.

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 1. August 2018, das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 10. Oktober 2019 sowie der Bescheid des Beklagten vom 23. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. März 2018 werden aufgehoben und der Beklagte verurteilt, unter Rücknahme des Bescheids vom 6. Januar 2017 der Klägerin ab 1. November 2016 Nachteilsausgleich wegen hochgradiger Sehschwäche und ab 1. März 2017 Blindengeld nach dem Sächsischen Landesblindengeldgesetz zu gewähren.

Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten für alle Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Sächsischen Gesetz über die Gewährung eines Landesblindengeldes und anderer Nachteilsausgleiche (Landesblindengeldgesetz - LBlindG).

Die 1942 geborene Klägerin ist deutsche Staatsbürgerin und lebt seit über zwanzig Jahren in Österreich. Zuvor war sie in Sachsen wohnhaft. Sie bezieht eine Rente von der Deutschen Rentenversicherung und ist in Deutschland krankenversichert (AOK Rheinland/Hamburg). Die Klägerin leidet an Makuladegeneration. Seit 2013 beträgt der Visus auf ihrem rechten Auge 0,02 (1/50) und auf ihrem linkem Auge 0,025 (1/40) sowie binokular 0,02. Zumindest seit dem 17.3.2017 hat die Klägerin einen Visus auf jedem Auge und auch binokular von 0,02. Ihr Antrag auf Pflegegeld nach dem Österreichischen Bundespflegegeldgesetz war bei der Österreichischen Pensionsversicherungsanstalt und den österreichischen Gerichten unter Verweis auf die deutsche Rente und Krankenversicherung der Klägerin erfolglos.

Den Antrag der Klägerin vom 24.11.2016 auf Leistungen nach dem LBlindG lehnte der Beklagte zunächst mit der Begründung ab, die Klägerin habe keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Sachsen (Bescheid vom 6.1.2017). Ihr (Überprüfungs-)Antrag vom 1.12.2017 hatte ebenfalls keinen Erfolg. EU-Recht sei nicht einschlägig, da die Klägerin keiner Beschäftigung in Sachsen nachgehe (Bescheid vom 23.1.2018; Widerspruchsbescheid vom 21.3.2018).

Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 1.8.2018), das LSG die Berufung zurückgewiesen. Zwar liege bei der Klägerin Blindheit iS des LBlindG vor. Sie erfülle aber nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 LBlindG. Sie habe weder ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Sachsen noch sei sie nach der Verordnung - VO (EG) Nr 883/2004 anspruchsberechtigt. Da die Klägerin wirtschaftlich inaktiv sei, unterfalle sie der Regelung des Art 11 Abs 3 Buchst e VO (EG) Nr 883/2004 und damit den Rechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats. Eine anderweitige Zuständigkeit ergebe sich auch nicht aus dem Bezug von Rentenleistungen aus Deutschland und der daran anknüpfenden Krankenversicherung. Die anderslautende Entscheidung des EuGH vom 5.5.2011 (C-206/10 ) zum deutschen Landesblindengeld sei nicht einschlägig, da jene Entscheidung zu EU-Bürgern ergangen sei, die in Deutschland arbeiteten, also im Streitzeitraum wirtschaftlich aktiv gewesen seien (Urteil vom 10.10.2019).

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1 Abs 1 LBlindG und der VO (EG) Nr 883/2004, insbesondere deren Art 29 Abs 1 iVm Art 21 und Art 24 Abs 2 Buchst a. Die verletzte Landesnorm sei revisibel, da die Länder im Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewusst und gewollt eine EU-rechtskonforme Anpassung ihrer Blindengeldgesetze vorgenommen hätten. Die Klägerin sei trotz ihres Wohnsitzes in Österreich anspruchsberechtigt. Beim deutschen Landesblindengeld handele es sich EU-rechtlich betrachtet um eine Geldleistung bei Krankheit, für die die VO Sonderkollisionsnormen vorsähe. Danach komme das Recht des Mitgliedstaats zur Anwendung, in welchem der Träger seinen Sitz habe, der die Kosten der im Wohnstaat gewährten Sachleistungen zu tragen habe. Dies sei hier Deutschland und in ihrem Fall wegen ihres letzten dortigen Wohnsitzes das Land Sachsen.

Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 1. August 2018, das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 10. Oktober 2019 sowie den Bescheid des Beklagten vom 23. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. März 2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Rücknahme des Bescheids vom 6. Januar 2017 der Klägerin ab 1. November 2016 Nachteilsausgleich wegen hochgradiger Sehschwäche und ab 1. März 2017 Blindengeld nach dem Sächsischen Landesblindengeldgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Der Beklagte hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

A. Die Revision entspricht der gesetzlichen Form.

I. Sie wurde durch einen postulationsfähigen Bevollmächtigten iS des § 73 Abs 4 Satz 1 SGG eingelegt und begründet (vgl § 164 SGG).

Nach § 73 Abs 4 Satz 1 SGG müssen sich die Beteiligten im Revisionsverfahren durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Rechtsanwälte sind grundsätzlich vertretungsberechtigt, wenn sie als solche in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen sind. Das trifft auf den in Österreich als Rechtsanwalt zugelassenen Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht zu. Denn er ist nicht zugleich als niedergelassener europäischer Rechtsanwalt in eine deutsche Rechtsanwaltskammer aufgenommen worden (vgl § 2 des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland eurag> vom 9.3.2000, BGBl I 182, berichtigt 1349, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2020, BGBl I 3320; vgl auch BSG Beschluss vom 15.6.2010 - B 13 R 172/10 B - SozR 4-1500 § 73 Nr 7 RdNr 5)eurag>.

Der Prozessbevollmächtigte kann allerdings auch ohne eine solche Zulassung vorübergehend und gelegentlich als dienstleistender europäischer Rechtsanwalt die Tätigkeit eines Rechtsanwalts in Deutschland ausüben (§ 25 Abs 1 iVm §§ 26 ff EuRAG). In gerichtlichen Verfahren mit Anwaltszwang muss er im Einvernehmen mit einem zur Vertretung vor diesem Gericht befugten Einvernehmensanwalt handeln (§ 28 Abs 1 EuRAG). Das Einvernehmen ist bereits bei der ersten Handlung gegenüber dem Gericht schriftlich nachzuweisen (§ 29 Abs 1 EuRAG; vgl auch BSG Beschluss vom 15.6.2010, aaO RdNr 6).

Hier hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Einvernehmenserklärung zeitgerecht vorgelegt. Der Nichtzulassungsbeschwerde war ein Schreiben eines deutschen Rechtsanwalts beigefügt, mit dem dieser sein Einvernehmen mit der Nichtzulassungsbeschwerde und der nachfolgenden Revision erklärt hatte. Da das Einvernehmen nach § 29 Abs 2 Satz 2 EuRAG zudem bis zum Widerruf fortgilt, liegt die nötige Einvernehmenserklärung für das Revisionsverfahren vor (vgl hierzu auch Bayerischer VGH Beschluss vom 22.3.2010 - 11 CE 09.3150 - juris RdNr 22).

II. Auch die Einlegung und die Begründung der Revision entsprechen der erforderlichen Schriftform (§ 164 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGG).

Was unter dem Begriff "schriftlich" zu verstehen ist, regelt das SGG nicht. Die Vorschrift des § 126 BGB, die zunächst nur für das bürgerliche Recht gilt, kann wegen der Eigenständigkeit des Prozessrechts weder unmittelbar noch entsprechend auf Prozesshandlungen angewendet werden (BSG Urteil vom 16.11.2000 - B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4 S 9 = juris RdNr 16 unter Verweis auf die Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes GmSOGB> vom 30.4.1979 - GmS-OGB 1/78 - BGHZ 75, 340, 352 = juris RdNr 30 mwN). Entscheidend für das Merkmal der Schriftlichkeit im Prozessrecht ist vielmehr, welcher Grad von Formstrenge nach den maßgeblichen verfahrensrechtlichen Vorschriften sinnvoll zu fordern ist (BVerfG Beschluss vom 19.2.1963 - 1 BvR 610/62 - BVerfGE 15, 288, 292 = juris RdNr 12; BSG Urteil vom 16.11.2000, aaO).

Durch das Schriftformerfordernis soll gewährleistet werden, dass aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können. Außerdem muss feststehen, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist (GmSOGB Beschluss vom 5.4.2000 - GmS-OGB 1/98 - SozR 3-1750 § 130 Nr 1 - juris RdNr 10; BSG Urteil vom 16.11.2000, aaO; BVerwG Urteil vom 6.12.1988 - 9 C 40/87 - juris RdNr 6). Das Merkmal der Schriftlichkeit schließt bereits nach dem Sprachgebrauch nicht ohne weiteres notwendig die handschriftliche Unterzeichnung ein. Zwar wird dem Schriftformerfordernis grundsätzlich durch die eigenhändige Unterschrift Rechnung getragen (BSG Urteil vom 16.11.2000, aaO mwN), da dies das typische Merkmal ist, um den Urheber eines Schriftstücks und seinen Willen festzustellen, die niedergeschriebene Erklärung in den Verkehr zu bringen (BSG Beschluss vom 15.10.1996 - 14 BEg 9/96 - SozR 3-1500 § 151 Nr 2 S 3 = juris RdNr 6). Jedoch sind insoweit in der Rechtsprechung zahlreiche Ausnahmen anerkannt (zum Ganzen BSG Urteil vom 16.11.2000, aaO mwN). Das Schriftformerfordernis ist danach etwa auch erfüllt, wenn der maßgebliche Schriftsatz keine eigenhändige Unterschrift enthält...

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