Urteil vom 01. Oktober 2024 - 1 BvR 1160/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:rs20241001.1bvr116019 |
Judgement Number | 1 BvR 1160/19 |
Date | 01 October 2024 |
Citation | BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 01. Oktober 2024 - 1 BvR 1160/19 -, Rn. 1-214, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Ersten Senats vom 1. Oktober 2024
- 1 BvR 1160/19 -
Bundeskriminalamtgesetz II
- Voraussetzung einer heimlichen Überwachung von Kontaktpersonen mit eingriffsintensiven Maßnahmen zum Zweck der Datenerhebung ist jedenfalls, dass eine Überwachung der polizeirechtlich verantwortlichen Person mit entsprechenden Mitteln zulässig wäre
- Im Rahmen einer zweckwahrenden Verarbeitung zuvor erhobener personenbezogener Daten sind diese grundsätzlich zu löschen, nachdem der unmittelbare Anlassfall abgeschlossen und damit der der Erhebungsmaßnahme zugrundeliegende konkrete Zweck erfüllt ist. Ein Absehen von einer Löschung über den unmittelbaren Anlassfall hinaus kommt in Betracht, soweit sich aus den Daten – sei es aus ihnen selbst, sei es in Verbindung mit weiteren Kenntnissen der Behörde – zwischenzeitlich ein konkreter Ermittlungsansatz ergeben hat und damit die Voraussetzungen einer zweckändernden Nutzung vorliegen
- Eine vorsorgende Speicherung personenbezogener Grunddaten zur Identifizierung und zu einem bestimmten strafrechtlich relevanten Verhalten von Beschuldigten durch das Bundeskriminalamt auf einer föderalen polizeilichen Datenplattform erfordert jedenfalls die Festlegung angemessener Speicherschwellen sowie die Bestimmung einer angemessenen Speicherdauer
- Die vorsorgende Speicherung muss auf einer Speicherschwelle beruhen, die den Zusammenhang zwischen den vorsorgend gespeicherten personenbezogenen Daten und der Erfüllung des Speicherzwecks in verhältnismäßiger Weise absichert und den spezifischen Gefahren der vorsorgenden Speicherung angemessen begegnet. Dies ist bei der Speicherung von Daten für die Verhütung und Verfolgung von Straftaten nur gegeben, wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Betroffenen eine strafrechtlich relevante Verbindung zu möglichen Straftaten aufweisen werden und gerade die gespeicherten Daten zu deren Verhütung und Verfolgung angemessen beitragen können. Diese Prognose muss sich auf zureichende tatsächliche Anhaltspunkte stützen.
- Es bedarf der gesetzlichen Regelung einer angemessenen Speicherdauer. Diese wird insbesondere geprägt durch das Eingriffsgewicht, die Belastbarkeit der Prognose in der Zeit sowie durch andere sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebende Gesichtspunkte. Die Prognose verliert ohne Hinzutreten neuer relevanter Umstände grundsätzlich an Überzeugungskraft über die Zeit.
Verkündet
am 1. Oktober 2024
Uhr
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1160/19 -
über
die Verfassungsbeschwerde
1.der Frau (…), | ||
2.der Frau (…), | ||
3.der Frau (…), | ||
4.des Herrn (…), | ||
5.des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
- 1.Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M.,
(…),
- 2.Rechtsanwalt Dr. Bijan Moini,
(…),
(zu 2., 3.) -
gegen | § 16 Absatz 1 in Verbindung mit § 12 Absatz 1 Satz 1, | |
§ 16 Absatz 6 Nummer 2 auch in Verbindung mit § 29 Absatz 4 | ||
Satz 2, § 18 Absatz 1, 2 und 5 in Verbindung mit | ||
§ 13 Absatz 3, § 29, § 45 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4, § 49, | ||
§ 51 Absatz 2 des Gesetzes über das Bundeskriminalamt und | ||
die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminal- | ||
polizeilichen Angelegenheiten (Bundeskriminalamtgesetz – BKAG) | ||
in der Fassung des Gesetzes zur Neustrukturierung des | ||
Bundeskriminalamtgesetzes vom 1. Juni 2017 (Bundesgesetz- | ||
blatt I Seite 1354) |
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel,
Wolff,
Eifert,
Meßling
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. Dezember 2023 durch
für Recht erkannt:
- § 18 Absatz 1 Nummer 2 in Verbindung mit § 18 Absatz 2 Nummer 1, soweit dieser in Verbindung mit § 13 Absatz 3, § 29 die Speicherung von Daten durch das Bundeskriminalamt in seiner Funktion als Zentralstelle erlaubt sowie § 45 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 des Gesetzes über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (Bundeskriminalamtgesetz – BKAG) in der Fassung des Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes vom 1. Juni 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 1354) sind mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar.
- Bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 31. Juli 2025, gelten die für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften nach Maßgabe der Gründe zu D II 2 b fort.
- Soweit sich die Beschwerdeführerinnen zu 1) und 2) gegen § 16 Abs. 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 1 Satz 1 BKAG gewandt haben, wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführenden einDrittel ihrer notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
A.
Die Beschwerdeführenden wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen Regelungen des Gesetzes über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (Bundeskriminalamtgesetz, im Folgenden: BKAG) in der Fassung des Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes vom 1. Juni 2017 (BGBl I S. 1354), die zum 25. Mai 2018 in Kraft getreten sind (BGBl I S. 1354). Angegriffen ist zum einen die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz besonderer Mittel der Datenerhebung zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus, soweit diese eine Überwachung von Kontaktpersonen erlaubt (§ 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 39 Abs. 2 Nr. 2 BKAG). Zum anderen rügen die Beschwerdeführenden Regelungen zur Weiterverarbeitung bereits erhobener personenbezogener Daten im Informationssystem des Bundeskriminalamts und im polizeilichen Informationsverbund (§ 16 Abs. 1 i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 1 BKAG; § 18 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4, Abs. 2 Nr. 1 und 3 und Abs. 5 i.V.m. § 13 Abs. 3, § 29 BKAG) sowie zu polizeilichen Hinweisen (§ 16 Abs. 6 Nr. 2 auch i.V.m. § 29 Abs. 4 Satz 2 BKAG).
I.
Mit dem Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes vom 1. Juni 2017 beabsichtigte der Bundesgesetzgeber insbesondere die Umsetzung der Vorgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2016 (BVerfGE 141, 220) und die der Richtlinie (EU) 2016/680 vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl EU, L 119 vom 4. Mai 2016, S. 89-131; JI-Richtlinie; im Folgenden: JI-RL; vgl. BTDrucks 18/11163, S. 1). Im Zuge dieser Reform sollte unter anderem die IT-Architektur des Bundeskriminalamts neu strukturiert werden, um so die Effizienz und Effektivität der kriminalpolizeilichen Arbeit zuverbessern. In Reaktion auf die Erfahrungen aus der Aufklärung der NSU-Mordserie im November 2011 wurde gefordert, dass die informationstechnischen Grundlagen für die notwendige Vernetzung aller an einer Ermittlung beteiligten Dienststellen jederzeit sofort verfügbar sein müssten. Es dürfe nicht nochmals vorkommen, dass Zeit und Kraft dafür verloren gingen, unterschiedliche Systeme während einer laufenden Ermittlung zu verknüpfen. Zugleich sollte den Datenschutzanforderungen Rechnung getragen werden (vgl. BTDrucks 18/11163, S. 76).
Die neuen Regelungen im Bundeskriminalamtgesetz zur Einrichtung einerföderalen Datenplattform („polizeilicher Informationsverbund“) stehen im Zusammenhang mit der für notwendig erachteten digitalen Transformation der Polizei. So verständigten sich im November 2016 die Innenminister des Bundes und der Länder auf die „Saarbrücker Agenda zur Informationsarchitektur der Polizei als Teil der Inneren Sicherheit“. Zur Umsetzung dieser Agenda stellte der Bund das Programm Polizei 2020 auf (vgl. Bundesministerium des Innern, Polizei 2020 - White Paper -, 2018). Auf seiner Grundlage trafen Bund und Länder im Dezember 2019 die „Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung eines Polizei-IT-Fonds und über die Grundlagen der Zusammenarbeit bei der Modernisierung des polizeilichen Informationswesens von Bund und Ländern – Vereinbarung zur Ausführung von Artikel 91c Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 und Satz 4 GG“. Alleinige Regelungsgegenstände sind die Einrichtung eines Polizei-IT-Fonds zur Finanzierung und die Entscheidungsstrukturen bei der Zusammenarbeit bei der Modernisierung des polizeilichen Informationswesens.
In der föderalen Informationsordnung der Polizei gab es auch schon zuvor eine IT-Verbundarchitektur. Vorgänger des neuen „polizeilichen Informationsverbunds“ ist das bestehende Informationssystem Polizei (INPOL), das solange weiterbetrieben und gepflegt werden soll, bis die phasenweise Übernahme durch die neuen Komponenten sichergestellt ist (vgl. Bundesministerium des Innern, Polizei 2020 - White Paper -, 2018, S. 16). INPOL ist ein Verbundsystem,...
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