Urteil vom 05. Mai 2020 - 2 BvR 859/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rs20200505.2bvr085915 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 05. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 1-237, |
Date | 05 Mayo 2020 |
Judgement Number | 2 BvR 859/15 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020
- 2 BvR 859/15 -
- 2 BvR 1651/15 -
- 2 BvR 2006/15 -
- 2 BvR 980/16 -
- 1. Stellt sich bei einer Ultra-vires- oder Identitätskontrolle die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, so legt das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung grundsätzlich den Inhalt und die Beurteilung zugrunde, die die Maßnahme durch den Gerichtshof der Europäischen Union erhalten hat. (118)
- 2. Der mit der Funktionszuweisung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV verbundene Rechtsprechungsauftrag des Gerichtshofs der Europäischen Union endet dort, wo eine Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist. Überschreitet der Gerichtshof diese Grenze, ist sein Handeln vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt, so dass seiner Entscheidung jedenfalls für Deutschland das gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation fehlt. (112)
- 3. Bei der Berührung fundamentaler Belange der Mitgliedstaaten, wie dies bei der Auslegung der Verbandskompetenz der Europäischen Union und ihres demokratisch legitimierten Integrationsprogramms in der Regel der Fall ist, darf die gerichtliche Kontrolle die behaupteten Absichten der Europäischen Zentralbank nicht unbesehen übernehmen. (142)
- 4. Die Kombination eines weiten Ermessens des handelnden Organs und einer Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte durch den Gerichtshof der Europäischen Union trägt dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung offensichtlich nicht hinreichend Rechnung und eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten. (156)
- 5. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips. Die Finalität des Integrationsprogramms darf nicht dazu führen, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als eines der Fundamentalprinzipien der Europäischen Union faktisch außer Kraft gesetzt wird. (158)
- 6. a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten und die damit verbundene wertende Gesamtbetrachtung besitzen ein für das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Volkssouveränität erhebliches Gewicht. Ihre Missachtung ist geeignet, die kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union zu verschieben und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen. (158)
- b) Die Verhältnismäßigkeit eines Programms zum Ankauf von Staatsanleihen setzt neben seiner Eignung zur Erreichung des angestrebten Ziels und seiner Erforderlichkeit voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des währungspolitischen Ziels unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV. (165)
- c) Dass das Europäische System der Zentralbanken keine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben darf, schließt es nicht aus, unter dem Gesichtspunkt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV die Auswirkungen zu erfassen, die ein Ankaufprogramm für Staatsanleihen etwa für die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise, das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen hat, und sie – im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung – zu dem angestrebten und erreichbaren währungspolitischen Ziel in Beziehung zu setzen. (139)
- 7. Ob ein Programm wie das PSPP eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs. 1 AEUV darstellt, entscheidet sich jedoch nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums, sondern nur auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung. Vor allem die Ankaufobergrenze von 33 % und die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der Europäischen Zentralbank verhindern, dass unter dem PSPP selektive Maßnahmen zugunsten einzelner Mitgliedstaaten getroffen werden und dass das Eurosystem zum Mehrheitsgläubiger eines Mitgliedstaats wird. (217)
- 8. Eine (nachträgliche) Änderung der Risikoverteilung für die unter dem PSPP erworbenen Staatsanleihen würde die Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berühren und wäre mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar. Sie stellte in der Sache eine vom Grundgesetz verbotene Haftungsübernahme für Willensentscheidungen Dritter mit schwer kalkulierbaren Folgen dar. (227)
- 9. Bundesregierung und Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken. Sie müssen ihre Rechtsauffassung gegenüber der Europäischen Zentralbank deutlich machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgen. (232)
- 10. Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Das gilt grundsätzlich auch für die Bundesbank. (234)
Verkündet
am 5. Mai 2020
Fischböck
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 859/15 -
- 2 BvR 1651/15 -
- 2 BvR 2006/15 -
- 2 BvR 980/16 -
über
die Verfassungsbeschwerden
I. |
1. des Herrn Dr. W…, |
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2. |
des Herrn Dr. H…, |
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3. |
des Herrn Dr. A…, |
- Bevollmächtigter:
- -
gegen |
1. das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages, darauf hinzuwirken, dass der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 22. Januar 2015 über ein erweitertes Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (ECB/2015/10) und die Entscheidung der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 (Beschluss [EU] 2015/774) über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (Public Sector Asset Purchase Programme), geändert durch die Entscheidung der Europäischen Zentralbank vom 5. November 2015 (Beschluss [EU] 2015/2101), Entscheidung der Europäischen Zentralbank vom 16. Dezember 2015 (Beschluss [EU] 2015/2464), Entscheidung der Europäischen Zentralbank vom 18. April 2016 (Beschluss [EU] 2016/702), Entscheidung der Europäischen Zentralbank vom 11. Januar 2017 (Beschluss [EU] 2017/100), Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 13. Dezember 2018 aufgehoben beziehungsweise nicht durchgeführt werden, |
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2. das Unterlassen der Deutschen Bundesbank, sich gegen ihre Einbeziehung in das Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank durch eine Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu wehren, |
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3. die Anwendbarkeit des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 11. Dezember 2018 – Rs. C-493/17, Weiss e.a. – für den Geltungsbereich des Grundgesetzes |
- 2 BvR 859/15 -,
II. |
1. des Herrn Prof. Dr. L…, |
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2. |
des Herrn Prof. Dr. h.c. H…, |
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3. |
des Herrn Prof. Dr. S…, |
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4. |
des Herrn K…, |
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5. |
der Frau T…, |
|
sowie 1.729 weiterer Beschwerdeführer, |
- Bevollmächtigte:
- 1. ,
- 2. -
gegen |
1. die innerstaatliche Anwendbarkeit und Umsetzung des Beschlusses des Rates der Europäischen Zentralbank vom 22. Januar 2015 und des Beschlusses (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 (EZB/2015/10) über ein Programm zum Ankauf von Anleihen des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (Public Sector Asset Purchase Programme) nebst |
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- dem Beschluss (EU) 2015/2101 der Europäischen Zentralbank vom 3. September / 5. November 2015 (EZB/2015/33) zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 (EZB/2015/10) über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten, |
||
- dem Beschluss (EU) 2015/2464 der Europäischen Zentralbank vom 3. Dezember / 16. Dezember 2015 (EZB/2015/48) zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 (EZB/2015/10) über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten, |
||
- dem Beschluss (EU) 2016/702 der Europäischen Zentralbank vom 10. März / 18. April 2016 (EZB/2016/8) zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 (EZB/2015/10) über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten, und |
||
- dem Beschluss (EU) 2017/100 der Europäischen Zentralbank vom 8. Dezember 2016 / 11. Januar 2017 (EZB/2017/1) zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 (EZB/2015/10) über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten, |
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2. das Unterlassen der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages, in Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung auf die Aufhebung der vorstehend unter Ziffer 1 genannten Beschlüsse zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten hinzuwirken und geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen aus der fortgesetzten Durchführung dieser Beschlüsse möglichst begrenzt bleiben, |
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