Urteil vom 09.11.2021 - BVerwG 4 C 1.20

JurisdictionGermany
Judgment Date09 Noviembre 2021
Neutral CitationBVerwG 4 C 1.20
ECLIDE:BVerwG:2021:091121U4C1.20.0
Applied RulesBauGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr.1, Abs. 3 Satz 1, § 26 Nr. 4, § 27 Abs. 1 Satz 1, § 28 Abs. 1 Satz 3, § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 177 Abs. 2 und 3 Satz 1
Registration Date06 Diciembre 2021
Record Number091121U4C1.20.0
Subject MatterBau- und Bodenrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 09.11.2021 - 4 C 1.20 -

BVerwG 4 C 1.20

  • VG Berlin - 17.05.2018 - AZ: VG 13 K 724.17
  • OVG Berlin-Brandenburg - 22.10.2019 - AZ: OVG 10 B 9.18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2021
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt, Dr. Decker, Dr. Hammer und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Emmenegger
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Oktober 2019 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Mai 2018 sowie der Bescheid des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin vom 11. August 2017 und dessen Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2018 aufgehoben
  2. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin ein Negativzeugnis über die Nichtausübung des Vorkaufsrechts für den Kaufvertrag vom 15. Mai 2017 über das Grundstück H.straße ..., ... Berlin zu erteilen
  3. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen
Gründe I

1 Die Beteiligten streiten um die Ausübung eines gemeindlichen Vorkaufsrechts für ein Wohngrundstück.

2 Die Beigeladene ist Eigentümerin des Grundstücks H.straße ... in Berlin. Es ist mit einem Mehrfamilienhaus aus dem Jahre 1889 bebaut und verfügt in einem fünfgeschossigen Vorderhaus, einem Seitenflügel und einem Quergebäude über insgesamt 20 Mietwohnungen und 2 Gewerbeeinheiten. Im Jahr 2004 wurden Modernisierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen durchgeführt, wozu auf der Grundlage eines Fördervertrags mit dem beklagten Land öffentliche Fördermittel in Anspruch genommen wurden. Das Grundstück befindet sich im räumlichen Geltungsbereich der vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg erlassenen Erhaltungsverordnung für das Gebiet "Chamissoplatz", die als sogenannte Milieuschutzsatzung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB der Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung dient. Des Weiteren gilt für das Grundstück eine Verordnung des beklagten Landes, die einen Genehmigungsvorbehalt für die Begründung von Wohnungseigentum in Erhaltungsgebieten vorsieht. Schließlich liegt das Grundstück im Geltungsbereich eines Baunutzungsplans, der ein allgemeines Wohngebiet festsetzt.

3 Mit notariellem Vertrag vom 15. Mai 2017 verkaufte die Beigeladene das Grundstück zum Preis von 3,4 Mio. € an die Klägerin. Diese trat in den Fördervertrag ein, dessen Bindungen spätestens im Jahr 2026 ablaufen. Eine ihr vom Bezirksamt angebotene Vereinbarung über die Abwendung des Vorkaufsrechts lehnte die Klägerin ab. Die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft WBM unterzeichnete als vorkaufsbegünstigter Dritter am 10. August 2017 eine Verpflichtungserklärung.

4 Mit Bescheid vom 11. August 2017 lehnte das Bezirksamt den Antrag auf Erteilung eines Negativzeugnisses ab und übte unter Berufung auf § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BauGB sein Vorkaufsrecht zugunsten der WBM aus.

5 Das Verwaltungsgericht wies die Klage nach erfolglosem Widerspruchsverfahren ab. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Vorkaufsrechts lägen vor. Das Wohl der Allgemeinheit könne dies schon dann rechtfertigen, wenn im Hinblick auf eine bestimmte gemeindliche Aufgabe überwiegende Vorteile für die Allgemeinheit angestrebt würden. Im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung sei dies gegeben, wenn erhaltungswidrige Entwicklungen zu befürchten seien, die der Käufer voraussichtlich beabsichtige. Die Anforderungen an diesen Nachweis dürften nicht überspannt werden. Bei einer Würdigung der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse habe das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass mit der Ausübung des Vorkaufsrechts zugunsten der WBM das Ziel der Erhaltungsverordnung gefördert werde. Es sei auch zu befürchten, dass in der nachgefragten innerstädtischen Lage die Zusammensetzung der sozialgemischten Wohnbevölkerung aufgrund der Verdrängung einkommensschwächerer Gruppen nicht erhalten werde. Der relativ hohe Kaufpreis lasse erwarten, dass die Klägerin das Grundstück anders als bisher nutzen und den Kaufpreis durch mieterhöhende bauliche Maßnahmen refinanzieren werde. Diese Annahme werde dadurch bestärkt, dass die Klägerin die angebotene Abwendungserklärung nicht angenommen habe. Sie sei eine private Immobiliengesellschaft, was für eine Bewirtschaftung bzw. Vermarktung des Wohngebäudes nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und Erfordernissen spreche. Die Ausübung des Vorkaufsrechts sei schließlich nicht durch § 26 Nr. 4 BauGB ausgeschlossen. Diese Vorschrift sei dem Grunde nach anwendbar, wobei sich der Ausübungsausschluss im Falle einer gesonderten Erhaltungssatzung allein nach dessen zweiter Alternative richte. Diese sei ungeachtet des engen Wortlauts sachgerecht dahingehend auszulegen, dass bei der Beurteilung und Bewertung, ob das Grundstück entsprechend den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Maßnahme - hier der sozialen Erhaltungssatzung - genutzt werde, auch die zu erwartenden künftigen Nutzungen durch den Käufer zu berücksichtigen seien. Die Voraussetzungen für die Ausübung des Vorkaufsrechts zugunsten eines Dritten lägen vor. Schließlich habe der Beklagte sein Ermessen fehlerfrei betätigt.

6 Zur Begründung ihrer Revision macht die Klägerin geltend, dass der vom Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegte Maßstab nach § 24 Abs. 3 Satz 1 BauGB in sich widersprüchlich und fehlerhaft sei. Das Oberverwaltungsgericht missachte die gesetzliche Ausgestaltung der Ziele einer Erhaltungsverordnung nach § 172 BauGB, verzichte zu Unrecht auf eine konkrete Gefährdung der Erhaltungsziele durch den Grundstückserwerb und lege im Rahmen der Rechtfertigung der Vorkaufsrechtsausübung Umstände außerhalb des Erwerbsvorgangs zugrunde. Des Weiteren gehe es rechtsfehlerhaft davon aus, dass § 26 Nr. 4 Alt. 1 BauGB für Grundstücke, die wie hier im Geltungsbereich sowohl eines Bebauungsplans als einer Erhaltungssatzung lägen, nicht einschlägig sei. Im Rahmen des § 26 Nr. 4 Alt. 2 BauGB berücksichtige das Oberverwaltungsgericht zu Unrecht künftige erhaltungswidrige Entwicklungen.

7 Die Klägerin...

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