Urteil vom 09. Juni 2020 - 2 BvE 1/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:es20200609.2bve000119 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 09. Juni 2020 - 2 BvE 1/19 -, Rn. 1-97, |
Judgement Number | 2 BvE 1/19 |
Date | 09 Junio 2020 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Verkündet
am 9. Juni 2020
Fischböck
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 1/19 -
über
den Antrag festzustellen,
1. dass der Antragsgegner durch die Veröffentlichung eines Interviews, das |
||
2. dass die Bundesrepublik Deutschland der Antragstellerin die notwendigen Auslagen zu erstatten hat, |
Antragstellerin: |
Bundespartei Alternative für Deutschland (AfD), vertreten durch deren Bundessprecher Prof. Dr. Jörg Meuthen und Tino Chrupalla, Schillstraße 9, 10785 Berlin, |
- Bevollmächtigter:
… -
Antragsgegner: |
Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, Horst Seehofer, Alt-Moabit 140, 10557 Berlin, |
- Bevollmächtigter:
… -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
König,
Maidowski,
Langenfeld
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Februar 2020 durch
für Recht erkannt:
- Der Antragsgegner hat durch die Veröffentlichung des Interviews mit der Überschrift „Seehofer versteht die Aufregung nicht: GroKo arbeitet ‚störungsfrei‘ – Ein Interview mit Bundesinnenminister Horst Seehofer zur großen Koalition (GroKo)“ auf der Homepage des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat am 14. September 2018 die Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt.
- Der Antrag der Antragstellerin auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen wird abgelehnt.
Die Antragstellerin sieht sich durch ein auf der Homepage des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat veröffentlichtes Presseinterview in ihrem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt.
A.
I.
Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat veröffentlichte am 14. September 2018 auf seiner Homepage ein Interview des Antragsgegners mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa). In der Kopfzeile weist die Homepage das Bundeswappen und einen Hinweis auf das Ministerium aus.
Das Interview ist – in größerer und fettgedruckter Schrift – überschrieben mit:
Seehofer versteht die Aufregung nicht: GroKo arbeitet >>störungsfrei
Es folgen vor Wiedergabe des Interviewtextes zwei Hinweise in normaler Schrift:
Ein Interview mit Bundesinnenminister Horst Seehofer zur großen Koalition (GroKo)
dpa
Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.de
In dem Interview äußert sich der Antragsgegner unter anderem wie folgt:
Wir haben ein gespaltenes Land, ein polarisiertes Land, steht alles im Koalitionsvertrag. Wir haben das Aufblühen der AfD. Und die Volksparteien, die klassischen Volksparteien, verlieren immer mehr an Zustimmung.
[…]
Frage:
Was Sie sagen, richtet sich hauptsächlich gegen die AfD.
Antwort:
Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten. Das haben Sie am Dienstag im Bundestag miterleben können mit dem Frontalangriff auf den Bundespräsidenten. Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen. Ich kann mich nicht im Bundestag hinstellen und wie auf dem Jahrmarkt den Bundespräsidenten abkanzeln. Das ist staatszersetzend.
[…]
Frage:
Hat die AfD davon profitiert, dass sich die Bundestagsparteien 2015 in der Flüchtlingsfrage weitgehend einig waren?
Antwort:
Ich denke schon. Und jetzt stellt sich zunehmend die Frage, wie man der AfD stärker entgegentritt. Der Frontalangriff auf den Bundespräsidenten im Bundestag war einfach schäbig.
Frage:
Hat sich die AfD aus ihrer Sicht seit 2015 verändert? Ist sie, wie viele sagen, radikaler geworden?
Antwort:
Ja. Die sind auf der Welle, auf der sie schwimmen, einfach übermütig geworden und haben auch dadurch die Maske fallen lassen. So ist es auch leichter möglich, sie zu stellen, als wenn sie den Biedermann spielt.
Frage:
War das in der Ära von AfD-Gründer Bernd Lucke noch anders? Wären Sie mit Lucke zum Beispiel auch ein Bier trinken gegangen?
Antwort:
Ja, mit dem Lucke sowieso. Mich erschreckt an der AfD dieses kollektive Ausmaß an Emotionalität, diese Wutausbrüche – selbst bei Geschäftsordnungsdebatten. Als ginge es jetzt um die Auflösung der Bundesrepublik Deutschland. So kann man nicht miteinander umgehen, auch dann nicht, wenn man in der Opposition ist.
Am Ende des Interviews findet sich noch der Hinweis:
© Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, 2018
Den Angriffen, auf die der Antragsgegner in dem Interview Bezug nimmt, liegt zugrunde, dass die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag (AfD-Bundestagsfraktion) in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages am 11. September 2018 einen Antrag zur Geschäftsordnung mit dem Inhalt stellte, den Einzelplan 01 zum Haushalt des Bundespräsidenten mit einer Debattendauer von 60 Minuten zu beraten. Zur Begründung verwies der der AfD-Bundestagsfraktion angehörende Abgeordnete Dr. Baumann darauf, der Bundespräsident habe für eine linksradikale Großveranstaltung in Chemnitz geworben und dadurch seine Neutralitätspflicht offensichtlich verletzt. Daher müsse sein Etat zum Gegenstand der Haushaltsdebatte werden (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/47, S. 4944).
II.
Den Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Senat mit Beschluss vom 30. Oktober 2018 (vgl. BVerfGE 150, 163) abgelehnt. Für das Begehren auf Entfernung des Interviews von der Internetseite des Ministeriums hat das Rechtsschutzbedürfnis gefehlt, weil ihm bereits Rechnung getragen war. Soweit die Antragstellerin die Untersagung einer Wiederholung der Äußerungen begehrte, hat es an konkreten Anhaltspunkten dafür gemangelt, dass der Antragsgegner eine Wiederholung unter Rückgriff auf seine Amtsautorität beabsichtigte.
III.
1. Die Antragstellerin macht in der Hauptsache geltend, dass die Veröffentlichung des Interviews mit dem Antragsgegner auf der Internetseite des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat sie in ihrem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt habe. Sie trägt zur Begründung im Wesentlichen vor:
a) Der Antrag sei zulässig. Insbesondere lägen Antragsbefugnis und Rechtsschutzbedürfnis vor. Es könne nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der Antragsgegner durch das streitgegenständliche Interview und dessen Veröffentlichung auf der amtlichen Internetseite des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat am 14. September 2018 die verfassungsrechtlichen Grenzen der Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern überschritten und sie dadurch in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt habe. Das Rechtsschutzbedürfnis entfalle nicht durch die Entfernung des Interviews von der offiziellen Internetseite des Ministeriums, weil der Antragsgegner weiterhin die Auffassung vertrete, dass die Veröffentlichung des Interviews zulässig gewesen sei. Daher bestehe eine jederzeitige Wiederholungsgefahr.
b) Der Antrag sei auch begründet. Die chancengleiche Beteiligung an der politischen Willensbildung des Volkes mache es erforderlich, dass Staatsorgane sowohl während als auch außerhalb des Wahlkampfs das Neutralitätsgebot beachteten, da der Prozess der politischen Willensbildung nicht auf den Wahlkampf beschränkt sei, sondern fortlaufend stattfinde und auf die Wahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler zurückwirke. Auch finde im föderalen System gleichsam ständig ein Wahlkampf statt. Vorliegend hätten die Äußerungen des Antragsgegners jedenfalls einen Bezug zur Wahl des Bayerischen Landtags und der bayerischen Bezirkstage am 14. Oktober 2018 sowie zur Wahl des Hessischen Landtags am 28. Oktober 2018 gehabt.
Der Antragsgegner habe die ihm obliegende Neutralitätspflicht verletzt. Zwar habe die Bundesregierung die Befugnis zur neutralen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie dürfe aber nicht mithilfe staatlicher Ressourcen zielgerichtet auf den politischen Willensbildungsprozess einwirken. Erst recht dürfe sie nicht in ungeheuerlicher Diktion vernichtende Werturteile über einzelne Parteien abgeben. Bei der Zurückweisung von Kritik habe sie die gebotene Sachlichkeit zu wahren.
Unmittelbarer Anlass der Interviewäußerung des Antragsgegners sei...
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