Urteil vom 10.10.2024 - BVerwG 3 C 3.23

JurisdictionGermany
Judgment Date10 October 2024
Neutral CitationBVerwG 3 C 3.23
ECLIDE:BVerwG:2024:101024U3C3.23.0
CitationBVerwG, Urteil vom 10.10.2024 - 3 C 3.23 -
Record Number101024U3C3.23.0
Registration Date19 December 2024
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesStVG § 2a Abs. 1 bis 2a, 4 und 5, § 4 Abs. 1 Satz 4, Abs. 5 Satz 1 Nr. 3, Abs. 10,FeV § 11 Abs. 3 und 8

BVerwG 3 C 3.23

  • VG Koblenz - 07.04.2022 - AZ: 4 K 119/22.KO
  • OVG Koblenz - 24.01.2023 - AZ: 10 A 10412/22.OVG

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 10. Oktober 2024
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß und Dr. Sinner und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 2024 wird zurückgewiesen
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
GründeI

1 Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.

2 Ihm wurde erstmals am 30. Juli 2014 die Fahrerlaubnis der Klasse B erteilt. Bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle und einer weiteren Kontrolle aus Anlass von Verkehrsverstößen wurde der Konsum von Cannabis festgestellt. Deshalb und wegen der Verkehrsverstöße wurde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet. Das von dem Kläger vorgelegte Gutachten führte zu einer negativen Beurteilung seiner Fahreignung. Hierauf verzichtete er mit Schreiben vom 14. April 2015 auf seine Fahrerlaubnis.

3 Auf der Grundlage eines nunmehr positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens und der Vorlage einer Bescheinigung über die Teilnahme an einem Aufbauseminar erteilte die Beklagte dem Kläger am 22. Juli 2020 erneut die Fahrerlaubnis der Klasse B. Am 24. September 2020 überfuhr er eine bereits länger als eine Sekunde rote Ampel. Der deshalb erlassene Bußgeldbescheid wurde rechtskräftig. Die Beklagte ordnete hierauf erneut die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens an und stützte ihre Anordnung auf § 2a Abs. 5 Satz 5 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG). Nachdem der Kläger das von ihm verlangte Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt hatte, entzog sie ihm mit Bescheid vom 9. März 2021 die Fahrerlaubnis. Der hiergegen gerichtete Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 2022 zurückgewiesen.

4 Das Verwaltungsgericht hat der dagegen erhobenen Klage mit Urteil vom 7. April 2022 stattgegeben. Die erneute Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens könne nicht auf § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG gestützt werden. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes gelte die Bestimmung nur nach einer vorausgegangenen Entziehung der Fahrerlaubnis, nicht aber im Falle eines Verzichts. Ihre analoge Anwendung scheide aus, weil es an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. Der Gesetzgeber habe die Möglichkeit einer Umgehung gesehen, innerhalb des § 2a StVG aber Entziehung und Verzicht nicht in allen Fällen gleichgestellt. Im Umkehrschluss bleibe es hier grundsätzlich bei den Maßnahmen nach § 2a Abs. 2 StVG. Ein Versehen liege auch angesichts der Beratungen in verschiedenen Ausschüssen des Deutschen Bundestags und des Bundesrates fern. Zudem sprächen gute Gründe dafür, im Regelungskontext von § 2a Abs. 5 Satz 4 und 5 StVG die Entziehung nicht mit dem Verzicht gleichzustellen. Der Verzicht könne aus unterschiedlichen Gründen erfolgen, weshalb nicht unterstellt werden könne, eine Umgehung sei beabsichtigt. Im Einzelfall könne auf der Grundlage von § 2a Abs. 4 Satz 1 StVG die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden. Ein differenziertes Vorgehen sei schlüssig und wegen der Eingriffsintensität der Untersuchung verfassungsrechtlich geboten.

5 Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe die Fahrerlaubnis des Klägers zu Recht entzogen. Sie habe auf seine Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen dürfen, da er das von ihm rechtmäßig geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt habe. Die Anordnung des medizinisch-psychologischen Gutachtens habe auf § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG in analoger Anwendung gestützt werden können. Die Vorschrift sei in Fällen eines Verzichts jedenfalls dann entsprechend anwendbar, wenn der Fahrerlaubnisinhaber vor der Neuerteilung an einem Aufbauseminar teilzunehmen hatte. Es bestehe eine planwidrige Regelungslücke. Das Recht der Fahrerlaubnis auf Probe habe zunächst an keiner Stelle zwischen Fahrerlaubnisentziehung und -verzicht unterschieden. Es habe vorgesehen, dass nach einer Fahrerlaubnisentziehung vor der Neuerteilung der Nachweis über die Teilnahme an einem Nachschulungskurs zu erbringen sei. Aufbauend darauf habe es geregelt, dass in der neu beginnenden Probezeit der Maßnahmenkatalog des § 2a Abs. 2 StVG keine Anwendung finde und stattdessen die zuständige Behörde im Falle einer erneuten relevanten Zuwiderhandlung in der Regel die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen habe (§ 2a Abs. 5 Satz 1 bis 3 StVG a. F.). Das sei von dem Gedanken getragen gewesen, dass eine Wiederholung des Nachschulungskurses nicht sinnvoll sei. Aus dem Änderungsgesetz vom 24. April 1998 (BGBl. I S. 747) ergebe sich, dass dies uneingeschränkt auch nach einem Verzicht gelten solle. Der Gesetzgeber habe einen weitgehenden Gleichlauf der Verlusttatbestände klarstellen wollen. Er habe geregelt, dass eine neue Probezeit auch nach einem Verzicht beginne und der Nachweis der Teilnahme an einem Aufbauseminar (vormals: Nachschulungskurs) erbracht werden müsse, wenn deren Anordnung wegen des Verzichts unterblieben oder ihr nicht nachgekommen worden sei (§ 2a Abs. 5 Satz 2 StVG). Ein sachlicher Unterschied der Voraussetzungen für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach einer Entziehung und einem Verzicht bestehe nicht mehr. Die Verknüpfung zwischen den Voraussetzungen für die Neuerteilung und den Rechtsfolgen für die neue Probezeit erforderten eine Gleichbehandlung. Aus der analogen Anwendung von § 2a Abs. 5 Satz 4 StVG folge die Anwendung von § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG. Anderenfalls komme es bei einer erneuten Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar zu einer sinnwidrigen Verlängerung der Probezeit auf sechs Jahre (§ 2a Abs. 2a Satz 1 StVG). Die Analogie überzeuge auch aufgrund der Ziele und Wertungen des Gesetzgebers. Danach seien bei einem Fahranfänger, der sich in der ersten Probezeit nicht bewähre und trotz Teilnahme an einem Aufbauseminar erneut relevante Zuwiderhandlungen begangen habe, frühzeitig ernsthafte Zweifel an der Fahreignung gegeben. Denkbar unterschiedliche Motive eines Verzichts seien in der Regel nicht bedeutsam. Dem Gesetzgeber sei es darum gegangen, dass sein Regelungsregime nicht unterlaufen werde. Die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung sei auch im Verzichtsfall verhältnismäßig, zumal sie nur in der Regel zu erfolgen habe und damit atypischen Konstellationen Rechnung getragen werden könne. Der Analogie stehe nicht entgegen, dass die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung im Einzelfall gegebenenfalls auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt werden könne. Denn diese sehe die Anordnung nicht als Regelfall vor und setze andere - strengere - Tatbestandsmerkmale voraus (§ 2a Abs. 4 Satz 1 StVG). Auch das Änderungsgesetz vom 19. März 2001 (BGBl. I S. 386) bestätige, dass der Gesetzgeber die Gefahr der Umgehung gesehen und eine Gleichbehandlung gewollt habe. Angesichts der mitunter komplexen Regelungsstruktur des § 2a StVG mit verschachtelten Verweisungsketten sei naheliegend, dass der Regelungsbedarf in § 2a Abs. 5 Satz 4 und 5 StVG übersehen worden sei. Danach habe die Beklagte die Anordnung der Beibringung eines Gutachtens auf § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG in entsprechender Anwendung stützen können. Dessen Voraussetzungen seien gegeben und auch im Übrigen sei die Anordnung nicht zu beanstanden.

6 Der Kläger macht sich zur Begründung seiner im Urteil des Oberverwaltungsgerichts zugelassenen Revision im Wesentlichen die Begründung des stattgebenden Urteils des Verwaltungsgerichts zu eigen. Eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG in Fällen eines freiwilligen Verzichts scheide aus. Es liege keine Regelungslücke vor, denn die Regelung sei nicht unvollständig; es gelte § 2a Abs. 2 StVG. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Genese der Vorschrift. Die Einbeziehungen des Verzichtsfalls in die Regelungen des § 2a StVG seien punktuell und ließen nicht den Willen erkennen, Entziehung und Verzicht generell gleich zu behandeln. Es könne nicht unterstellt werden, dass mit dem Verzicht eine Entziehung umgangen werden solle. Auch im Falle eines Verzichts habe die Behörde die Möglichkeit, die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auf der Grundlage von § 2a Abs. 4 Satz 1 StVG i. V. m. § 3 StVG und § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV anzuordnen, wenn sie die Maßnahmen des § 2a Abs. 2 StVG nicht für zielführend erachte.

7 Die Beklagte tritt der Revision entgegen und verweist zur Begründung auf das angefochtene Urteil.

II

8 Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat die Vorschrift des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG zu Recht für entsprechend anwendbar gehalten.

9 1. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Fahrerlaubnisentziehung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung. Das ist hier der Erlass des Widerspruchsbescheids vom 5. Januar 2022. Soweit es auf die Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Beibringung eines...

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