Urteil vom 14.07.2021 - BVerwG 3 C 2.20

Judgment Date14 Julio 2021
ECLIDE:BVerwG:2021:140721U3C2.20.0
Neutral CitationBVerwG 3 C 2.20
CitationBVerwG, Urteil vom 14.07.2021 - 3 C 2.20 -
Record Number140721U3C2.20.0
Registration Date01 Noviembre 2021
Applied RulesVwVfG § 4,MPAMIV § 10,MPSV § 22 Abs. 3,IFG §§ 1, 6,VO (EU) 2017/745 Art. 10 Abs. 14
Subject MatterGesundheitsverwaltungsrecht einschl. des Rechts der Heilberufe, der Gesundheitsfachberufe und des Krankenhausfinanzierungsrechts sowie des Seuchen- und Infektionsschutzrechts
CourtDas Bundesverwaltungsgericht

BVerwG 3 C 2.20

  • VG Köln - 04.04.2017 - AZ: VG 7 K 132/16
  • OVG Münster - 19.11.2019 - AZ: OVG 13 A 1326/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2021
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Prof. Dr. habil. Wysk, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. November 2019 geändert. Die Berufungen der Klägerinnen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 4. April 2017 werden zurückgewiesen
  2. Die Revisionen der Klägerinnen werden zurückgewiesen
  3. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu je 1/16
Gründe I

1 Die Klägerinnen, gesetzliche Krankenkassen, begehren von der Beklagten die Übermittlung einer dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte - im Folgenden: BfArM - vorliegenden Liste mit Krankenhäusern, die von der Beigeladenen mit Hüftendoprothesen beliefert wurden.

2 Die Beigeladene ist die deutsche Vertriebsgesellschaft eines Medizinprodukteherstellers mit Hauptsitz in der Schweiz. Sie vertrieb im Bundesgebiet seit dem Jahr 2003 bis etwa ins Jahr 2012 das Hüftimplantat-System mit der Bezeichnung "Durom/Metasul LDH-Großkugelkopfsystem". Im Jahr 2010 empfahl das BfArM nach einer Risikobewertung einen Anwendungsstopp für das gesamte System. Das Regierungspräsidium Freiburg teilte dem BfArM im Oktober 2012 mit, es habe im Rahmen seiner Überwachung der Beigeladenen die Verkaufszahlen aller Durom-Metasul-Komponenten nachvollzogen. Im November 2012 übersandte das Regierungspräsidium dem BfArM eine Kundenliste der Beigeladenen einschließlich der jeweiligen Verkaufszahlen aller Komponenten seit dem Inverkehrbringen 2003 bis zum Jahr 2012. Aus der Liste gehen die Kliniken hervor, die von der Beigeladenen das Durom/Metasul-System bezogen hatten. Auf einen Erlass des Bundesministeriums für Gesundheit mit der Bitte um eine aktuelle Risikoeinschätzung berichtete das BfArM im Januar 2014, es lägen 262 Meldungen für das Großkopfprothesensystem der Beigeladenen vor. Auf Basis des bei ihm dokumentierten Vorkommnisgeschehens ließen sich keine weiteren Maßnahmeempfehlungen nach der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) ableiten, die über die Empfehlungen von 2010 hinausgingen.

3 Im Mai 2015 beantragten die Klägerinnen beim BfArM, ihnen die Kundenliste zu übermitteln. Zur Begründung stützten sie sich insbesondere auf § 22 Abs. 3 MPSV. Sie seien auf die begehrte Information angewiesen, um Patienten, die von schadhaften Hüftprothesen betroffen seien, beraten und mögliche Regressansprüche ermitteln zu können. Das BfArM lehnte die Anträge mit Bescheiden vom 21. Oktober 2015 ab. Aus § 22 Abs. 3 MPSV ergebe sich kein Auskunftsanspruch. Die Kundenliste stehe in keinem Zusammenhang mit dem durchgeführten Risikobewertungsverfahren. Sie sei vom Regierungspräsidium Freiburg unaufgefordert übersandt worden. Der Anspruch lasse sich auch weder aus dem Informationsfreiheitsgesetz noch aus den Amtshilfevorschriften ableiten. Bei der Kundenliste handele es sich um ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, in dessen Offenlegung die Beigeladene nicht eingewilligt habe. Eine analoge Anwendung von § 84a Abs. 2 AMG scheide mangels planwidriger Regelungslücke aus.

4 Die nach erfolglosen Widerspruchsverfahren erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht Köln durch Urteil vom 4. April 2017 abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 19. November 2019 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Beklagte verpflichtet, über die Anträge auf Übermittlung der Kundenliste unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts neu zu entscheiden. Die weitergehenden Berufungen der Klägerinnen hat es zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Der auf Verpflichtung der Beklagten zur Übermittlung der Kundenliste gerichtete Hauptantrag sei unbegründet. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 22 Abs. 3 MPSV seien zwar erfüllt. Die Kundenliste sei eine Information im Sinne der Regelung. Sie stehe in ausreichendem Zusammenhang mit der Risikobewertung, die das BfArM zu dem Großkugelkopfsystem der Beigeladenen durchgeführt habe. Sie sei dem BfArM nicht zufällig und ohne sachlichen Bezug zur Risikobewertung übersandt worden, sondern im Rahmen des behördlichen Informationsaustausches. Das Anliegen der Klägerinnen, mit Hilfe der Liste etwaige Regressansprüche nach § 116 Abs. 1 SGB X zu ermitteln, sei ein berechtigtes Interesse im Sinne von § 22 Abs. 3 MPSV. Die Beklagte könne jedoch wegen fehlender Spruchreife nicht zur Übermittlung der Kundenliste verpflichtet werden. Das dem BfArM nach § 22 Abs. 3 MPSV eingeräumte Ermessen sei nicht auf Null reduziert. Der Auskunftsanspruch ergebe sich auch nicht aus den Amtshilfevorschriften oder einer entsprechenden Anwendung von § 84a AMG. Die Klägerinnen hätten aber einen Anspruch auf Neubescheidung ihrer Anträge, weil die Beklagte ihr Ermessen bislang nicht betätigt habe. Im Rahmen der nachzuholenden Ermessensausübung sei das Auskunftsinteresse der Klägerinnen mit dem Geheimhaltungsinteresse der Beigeladenen abzuwägen. Die Kundenliste sei ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis.

5 Dagegen haben die Klägerinnen und die Beklagte jeweils die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt.

6 Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend: Das angefochtene Urteil beruhe auf der Verletzung von § 22 Abs. 3 MPSV und § 40 VwVfG. Sie könnten ihren Auskunftsanspruch auch darauf stützen, einen Beitrag zur Risikoverringerung und damit zum Gesundheitsschutz zu leisten. Da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 22 Abs. 3 MPSV erfüllt seien, bedürfe es wegen des intendierten Ermessens besonderer Gründe, damit das BfArM von der begehrten Informationsübermittlung absehen dürfe. Solche Gründe bestünden nicht. Die Kundenliste sei kein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis der Beigeladenen. Sie beziehe sich auf einen weit zurückliegenden Zeitraum und enthalte keine Informationen mit aktueller Wettbewerbsrelevanz. Zudem stünden sie nicht im Wettbewerb mit der Beigeladenen. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts zu den Ermessenserwägungen für die Neubescheidung ihrer Anträge erweise sich danach gleichfalls als bundesrechtswidrig.

7 Die Änderung der Rechtslage durch die am 26. Mai 2021 in Kraft getretene Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung (MPAMIV) und das gleichzeitige Außerkrafttreten der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung lasse ihren Auskunftsanspruch nicht entfallen. Die Auslegung der MPAMIV ergebe, dass § 22 Abs. 3 MPSV auf den Streitfall weiter Anwendung finde. Dafür spreche auch das Verbot rückwirkender Gesetze, auf das sie sich ungeachtet ihrer fehlenden Grundrechtsfähigkeit berufen könnten. Für den Fall der Unanwendbarkeit von § 22 Abs. 3 MPSV folge ein entsprechender Informationsanspruch jedenfalls aus Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte. Die Kundenliste der Beigeladenen sei eine Information oder Unterlage, die für den Nachweis der Konformität des Produkts erforderlich sei. Dies belegten die nach der Verordnung bestehenden Dokumentationspflichten der Hersteller zum Nachweis der Konformität, die auch Kundenlisten umfassten. Zudem spreche der Regelungszweck für dieses Verständnis. Hilfsweise stützten sie ihr Auskunftsbegehren auf § 1 Abs. 1 Satz 1 IFG.

8 Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Revision im Wesentlichen vor: Das Oberverwaltungsgericht habe die Voraussetzungen des § 22 Abs. 3 MPSV zu Unrecht bejaht. Die Klägerinnen gehörten nicht zum Kreis der anspruchsberechtigten Körperschaften. Die Kundenliste sei auch keine Information oder Auskunft im Sinne der Vorschrift. Das Oberverwaltungsgericht überschreite die Auslegungsgrenze, soweit es das BfArM zur Auskunft an Dritte über Informationen für berechtigt und verpflichtet halte, die in keinem Zusammenhang mit dem Verfahren und dem Ergebnis der Risikobewertung stünden. Eine Neubescheidung auf der Grundlage von § 22 Abs. 3 MPSV komme nach dessen Außerkrafttreten nicht mehr in Betracht. Die Klägerinnen könnten den geltend gemachten Anspruch auch nicht aus § 10 MPAMIV, dem Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz oder der unionsrechtlichen Medizinprodukte-Verordnung herleiten.

9 Die Beigeladene unterstützt die Revision der Beklagten und tritt den Revisionen der Klägerinnen entgegen.

II

10 Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet, die zulässigen Revisionen der Klägerinnen sind unbegründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit es den Klagebegehren entsprochen hat. Die gemäß § 42 Abs. 1 VwGO statthaften (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 2020 - 6 C 10.19 - NVwZ 2021, 80 Rn. 12 m.w.N.) und auch im Übrigen zulässigen Verpflichtungsklagen sind unbegründet. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Übermittlung der Kundenliste oder auf eine Neubescheidung ihrer Anträge. Das führt zur Zurückweisung ihrer Revisionen (§ 144 Abs. 2 VwGO) sowie dazu, dass das angefochtene Urteil zu ändern ist und ihre Berufungen gegen das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang zurückzuweisen sind (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

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