Urteil vom 14.08.2023 - BVerwG 6 C 6.22

JurisdictionGermany
Judgment Date14 Agosto 2023
Neutral CitationBVerwG 6 C 6.22
ECLIDE:BVerwG:2023:140823U6C6.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 14.08.2023 - 6 C 6.22 -
Record Number140823U6C6.22.0
Registration Date23 Octubre 2023
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesAEUV Art. 267,GRC Art. 3, 4, 6, 7, 8, 11, 52,Richtlinie 2002/58/EG Art. 5, 6, 9, 15,TKG a. F. §§ 113, 113a, 113b, 113c, 115,TKG §§ 3, 174, 175, 176, 177, 183

BVerwG 6 C 6.22

  • VG Köln - 20.04.2018 - AZ: 9 K 3859/16

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. August 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller, Hahn und Dr. Tegethoff sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gamp
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 20. April 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Feststellungsausspruch dahingehend gefasst wird, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, die in § 176 Abs. 3 TKG aufgeführten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden zu speichern, denen sie den Internet-Zugang vermittelt
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Die Klägerin erbringt öffentlich zugängliche Internetzugangsdienste. Sie wendet sich mit der Feststellungsklage gegen die ihr durch § 113a Abs. 1 in Verbindung mit § 113b Abs. 3 des Telekommunikationsgesetzes vom 22. Juni 2004 (TKG a. F.) in der Fassung des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 (BGBI. I S. 2218 ff.) auferlegte Pflicht, ab dem 1. Juli 2017 Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern.

2 Mit Urteil vom 20. April 2018 hat das Verwaltungsgericht auf die Klage festgestellt, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, die in § 113b Abs. 3 TKG a. F. aufgeführten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden, denen sie den Internetzugang vermittelt, zu speichern. Die Speicherpflicht verstoße gegen Unionsrecht und sei daher im Fall der Klägerin unanwendbar. Die grundsätzlichen Rechtsfragen zur Reichweite und zu den materiellrechtlichen Anforderungen des im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Unionsrechts seien durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 21. Dezember 2016 in den verbundenen Rechtssachen - C-203/15 (Tele2 Sverige) und C-698/15 (Watson u. a.) [ECLI:​EU:​C:​2016:​970] - geklärt.

3 Auf die (Sprung-)Revision der Beklagten, mit der diese die Abweisung der Klage unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts erstrebt, hat der Senat das Verfahren mit Beschluss vom 25. September 2019 (BVerwG 6 C 12.18 ) ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 AEUV eingeholt.

4 Mit Urteil vom 20. September 2022 (verbundene Rechtssachen C-793/19 und C-794/19 [ECLI:​EU:​C:​2022:​702], berichtigt durch Beschluss vom 27. Oktober 2022) hat der EuGH die Vorlage wie folgt beschieden:
"Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;
er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die
- es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht;
- zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;
- zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;
- zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;
- es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori , zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.
Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen."

5 Die Beklagte hat sich in dem fortgeführten Revisionsverfahren nicht mehr zur Sache geäußert.

6 Die Klägerin tritt der Revision entgegen. Sie verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts und führt ergänzend aus: Aus dem Urteil des EuGH vom 20. September 2022 ergebe sich, dass die in ihrem Fall maßgeblichen Regelungen zur Bevorratung von IP-Zuordnungsdaten Art. 15 der Richtlinie 2002/58/EG i. V. m. Art. 7, 8, 11 und 52 Abs. 1 GRC verletzten. Zwar sei die nunmehr in § 176 Abs. 3 TKG geregelte Bevorratungspflicht - anders als die Bevorratungspflichten in § 176 Abs. 2 und 4 TKG - nicht schon im konzeptionellen Ausgangspunkt einer allgemeinen und unterschiedslosen Datenspeicherung mit dem Unionsrecht unvereinbar. Die in § 177 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 174 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 5 TKG enthaltenen Verwendungsregelungen, die zugleich die Zwecke der Datenbevorratung mitdefinierten, genügten jedoch nicht in vollem Umfang den strengen Anforderungen, die der EuGH an die Bevorratung von IP-Zuordnungsdaten herausgearbeitet habe.

7 Dem Bevorratungszweck des Schutzes der nationalen Sicherheit ließen sich zwar die in § 174 Abs. 5 Nr. 5 Buchst. a und Nr. 7 Buchst. a TKG beschriebenen nachrichtendienstlichen Verwendungszwecke zuordnen. Während jedoch der unionsrechtliche Begriff der nationalen Sicherheit eng zu interpretieren sei, seien die Aufgabenkreise der deutschen Nachrichtendienste deutlich weiter gefasst. Der tatbestandlich nicht eingegrenzte Verweis auf den Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes in § 174 Abs. 5 Nr. 5 Buchst. a TKG erfasse auch Bestrebungen und Tätigkeiten, denen das vom EuGH hervorgehobene Destabilisierungspotenzial fehle und die sich mit terroristischen Bedrohungen nicht vergleichen ließen. Da die Vorschrift weder Anhaltspunkte für eine begangene oder drohende Straftat noch für eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Sicherheit voraussetze, könne die Verwendungsregelung auch nicht auf der Grundlage dieser Bevorratungszwecke gerechtfertigt werden. Der in § 174 Abs. 5 Nr. 7 Buchst. a TKG geregelte Bevorratungszweck, Informationen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung zu erlangen, lasse sich nicht generell unter den engen unionsrechtlichen Begriff der nationalen Sicherheit subsumieren, da für die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung neben Informationen zur äußeren Sicherheit auch etwa auslandsbezogene Informationen aus dem kulturellen oder wirtschaftlichen Bereich bedeutsam sein könnten.

8 Die auf die Bekämpfung von Straftaten bezogenen Regelungen in § 174 Abs. 5 Nr. 1 und 2 Buchst. a TKG gingen über den Bevorratungszweck der Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität deutlich hinaus. Denn sie öffneten die bevorrateten IP-Zuordnungsdaten für Verwendungen zum Zweck der Verfolgung beziehungsweise Verhütung jeglicher Straftaten. Das Erfordernis der Bekämpfung gerade schwerwiegender Kriminalität würde bedeutungslos, wenn alle Straftaten hierunter gefasst werden könnten. Schließlich sei auch der in dem Bevorratungszweck der Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit enthaltene Begriff der öffentlichen Sicherheit deutlich enger als der gleichlautende Begriff des deutschen Rechts, da er sich auf wesentliche Sicherheitsinteressen beschränke. Jedenfalls ergebe sich aus dem weiteren Erfordernis einer Beschränkung auf schwere Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit, dass sich der Zweck einer Bevorratung von IP-Zuordnungsdaten auf den Schutz besonders bedeutsamer Rechtsgüter beschränken müsse. Der in § 174 Abs. 5 Nr. 2 Buchst. a TKG genannte Schutz nicht...

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