Urteil vom 14.08.2023 - BVerwG 6 C 7.22

JurisdictionGermany
Judgment Date14 Agosto 2023
Neutral CitationBVerwG 6 C 7.22
ECLIDE:BVerwG:2023:140823U6C7.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 14.08.2023 - 6 C 7.22 -
Record Number140823U6C7.22.0
Registration Date23 Octubre 2023
Subject MatterPostrecht und Telekommunikationsrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht

BVerwG 6 C 7.22

  • VG Köln - 20.04.2018 - AZ: 9 K 7417/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. August 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller, Hahn und Dr. Tegethoff sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gamp
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 20. April 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Feststellungsausspruch dahingehend gefasst wird, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, die in § 176 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 TKG aufgeführten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden, denen sie den Internet-Zugang vermittelt, und die in § 176 Abs. 2 Satz 1 und 2 TKG genannten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden, denen sie den Zugang zu öffentlichen Telefondiensten vermittelt, zu speichern
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Die Klägerin erbringt öffentlich zugängliche Telefondienste und Internetzugangsdienste. Sie wendet sich mit der Feststellungsklage gegen die ihr durch § 113a Abs. 1 in Verbindung mit § 113b des Telekommunikationsgesetzes vom 22. Juni 2004 (TKG a. F.) in der Fassung des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 (BGBI. I S. 2218 ff.) auferlegte Pflicht, ab dem 1. Juli 2017 Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern.

2 Mit Urteil vom 20. April 2018 hat das Verwaltungsgericht auf die Klage festgestellt, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, die in § 113b Abs. 3 TKG a. F. aufgeführten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden, denen sie den Internetzugang vermittelt, zu speichern und die in § 113b Abs. 2 Satz 1 und 2 TKG a. F. genannten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden, denen sie den Zugang zu öffentlichen Telefondiensten vermittelt, zu speichern. Die Speicherpflicht verstoße gegen Unionsrecht und sei daher im Fall der Klägerin unanwendbar. Die grundsätzlichen Rechtsfragen zur Reichweite und zu den materiellrechtlichen Anforderungen des im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Unionsrechts seien durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 21. Dezember 2016 in den verbundenen Rechtssachen C-203/15 (Tele2 Sverige) und C-698/15 (Watson u. a.) [ECLI:​EU:​C:​2016:​970] geklärt.

3 Auf die (Sprung-)Revision der Beklagten, mit der diese die Abweisung der Klage unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts erstrebt, hat der Senat das Verfahren mit Beschluss vom 25. September 2019 (BVerwG 6 C 13.18 ) ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 AEUV eingeholt.

4 Mit Urteil vom 20. September 2022 (verbundene Rechtssachen C-793/19 und C-794/19 [ECLI:​EU:​C:​2022:​702], berichtigt durch Beschluss vom 27. Oktober 2022) hat der EuGH die Vorlage wie folgt beschieden:
"Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;
er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die
- es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht;
- zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;
- zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;
- zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;
- es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori , zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.
Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen."

5 Die Beklagte hat sich in dem fortgeführten Revisionsverfahren nicht mehr zur Sache geäußert.

6 Die Klägerin tritt der Revision entgegen. Sie verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts und führt ergänzend aus: Die §§ 113a ff. TKG a. F. genügten nicht den Anforderungen, die der EuGH in dem Urteil vom 20. September 2022 für die Vorratsdatenspeicherung aufstelle. Es fehle ein Zusammenhang zwischen den zu speichernden Daten und dem damit verfolgten Ziel. Lediglich für die Übermittlung der Daten an eine Strafverfolgungsbehörde nenne § 113c Abs. 1 TKG a. F. die Zwecke der Verfolgung besonders schwerer Straftaten (Nr. 1) und der Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für den Bestand des Bundes oder eines Landes (Nr. 2). Für die Vorratsspeicherung selbst fehle eine solche Bestimmung. Der EuGH habe festgestellt, dass das deutsche TKG keine gezielte, sondern eine allgemeine Vorratsdatenspeicherung vorsehe. Denn sie betreffe nahezu alle die Bevölkerung bildenden Personen, ohne dass diese sich auch nur mittelbar in einer Lage befänden, die Anlass zur Strafverfolgung geben könnte. Eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten auf Vorrat sei nur bei einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit zulässig. Eine solche Anforderung regele das Telekommunikationsgesetz nicht und sie ergebe sich auch nicht aus einer unionsrechtskonformen Auslegung. Zwar wäre eine Vorratsspeicherung, die auf die Daten beschränkt sei, welche die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffen, nach dem Urteil des EuGH vom 20. September 2022 zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit zulässig. Aber auch eine solche Regelung sehe das Telekommunikationsgesetz nicht vor und sie ergebe sich auch nicht aus einer unionsrechtskonformen Auslegung.

7 Die Bestimmungen des Telekommunikationsgesetzes über die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen seien ebenfalls nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Zwar habe der EuGH entschieden, dass eine Rechtsvorschrift, die eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung allein der IP-Adressen der Quelle einer Verbindung vorsehe, grundsätzlich nicht gegen das Unionsrecht verstoße. Diese Möglichkeit müsse aber von der strikten Einhaltung der materiellen und prozeduralen Voraussetzungen abhängig gemacht werden, die die Nutzung dieser Daten regeln müssten. Angesichts der Schwere des mit der Vorratsdatenspeicherung verbundenen Eingriffs in die Grundrechte seien neben dem Schutz der nationalen Sicherheit nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit geeignet, diesen Eingriff zu rechtfertigen. Ferner fehle es an einer Normierung der vom EuGH geforderten strengen Voraussetzungen und Garantien hinsichtlich der Auswertung dieser Daten in Form einer Nachverfolgung in Bezug auf die Online-Kommunikation und -Aktivitäten der Betroffenen.

8 Schließlich habe der EuGH festgestellt, dass die im Vorlagebeschluss hervorgehobenen Beschränkungen von Inhalt, Umfang und Dauer der...

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