Urteil vom 14.09.2022 - BVerwG 9 C 24.21

JurisdictionGermany
Judgment Date14 Septiembre 2022
Neutral CitationBVerwG 9 C 24.21
ECLIDE:BVerwG:2022:140922U9C24.21.0
CitationBVerwG, Urteil vom 14.09.2022 - 9 C 24.21 -
Subject MatterStraßen- und Wegerecht
Registration Date10 Enero 2023
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesVwGO § 42 Abs. 2, § 67 Abs. 4 Satz 1 und 2, § 68 Abs. 2, § 75 Satz 1, § 80 Abs. 6 Satz 1,UmwRG § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 und 3,UVP-RL a. F. Art. 10a,UVP-RL n. F. Art. 11,GRC Art. 47
Record Number140922U9C24.21.0

BVerwG 9 C 24.21

  • OVG Koblenz - 04.08.2021 - AZ: 8 C 10217/21.OVG

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Martini und Dr. Dieterich sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Sieveking und
Prof. Dr. Schübel-Pfister
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. August 2021 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen
  2. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten
Gründe I

1 Der Kläger wendet sich gegen Planfeststellungsbeschlüsse für den Ausbau der rheinland-pfälzischen Landesstraße L 545 durch den Bau eines 2,50 m breiten Rad- und Gehweges zwischen S. und B. und zwischen B. und Sch.

2 Der geplante Rad- und Gehweg liegt zum großen Teil innerhalb des FFH-Gebiets DE 6914-301 "B." und des Vogelschutzgebiets DE 6914-401 "B. u. V." in einem Bereich, der Teil des Naturschutzgroßprojekts B. ist.

3 Der Kläger ist eine Bürgerinitiative in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Der Verein dient nach seiner Satzung dem Schutz von Umwelt, Natur und Landschaft. Dieser Satzungszweck soll insbesondere durch die Förderung eines umweltorientierten Verkehrskonzepts mit Maßnahmen unter anderem gegen die Zerstörung wertvoller Landschaften und Naturräume verwirklicht werden.

4 Die Planfeststellungsbeschlüsse vom 29. und 30. Oktober 2020 lagen vom 30. November 2020 bis einschließlich 14. Dezember 2020 zur Einsicht aus.

5 Mit Schreiben vom 15. Dezember 2020 beantragte der Kläger beim rheinland-pfälzischen Ministerium für Umwelt, Energie, Ernährung und Forsten seine Anerkennung zur Einlegung von Rechtsbehelfen nach § 3 UmwRG. Am 12. Januar 2021 erhob er Klage beim Verwaltungsgericht N. mit dem Antrag, die Planfeststellungsbeschlüsse vom 29. und 30. Oktober 2020 aufzuheben. Das Verwaltungsgericht erklärte sich mit Beschluss vom 1. Februar 2021 für sachlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das sachlich zuständige Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz. Mit Bescheid vom 3. Februar 2021 erkannte das rheinland-pfälzische Ministerium für Umwelt, Energie, Ernährung und Forsten den Kläger zur Einlegung von Rechtsbehelfen nach § 3 UmwRG als Umweltvereinigung an.

6 Das Oberverwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 4. August 2021 mangels Klagebefugnis als unzulässig ab. Der Kläger sei nicht nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt, weil er sich nicht auf eine Verletzung in eigenen Rechten berufen könne. Er sei auch nicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG verbandsklagebefugt. Die nach dieser Regelung erforderliche Anerkennung stelle eine Zugangsvoraussetzung dar, die bereits zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsbehelfs vorliegen müsse. Der Kläger sei jedoch erst nach Klageerhebung gemäß § 3 UmwRG als Umweltvereinigung zur Einlegung von Rechtsbehelfen anerkannt worden. Er sei schließlich auch nicht nach § 2 Abs. 2 Satz 1 UmwRG klagebefugt, weil er die verspätete Anerkennung zu vertreten habe. Dies sei auch mit Unionsrecht vereinbar. Schließlich komme auch eine Verbandsklagebefugnis nach § 64 BNatSchG nicht in Betracht.

7 Zur Begründung seiner vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision führt der Kläger im Wesentlichen aus: Bei dem Erfordernis der Anerkennung handele es sich nicht um eine Zugangs-, sondern um eine Sachentscheidungsvoraussetzung, die erst zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen müsse. Zu diesem Zeitpunkt habe der Kläger jedoch über die erforderliche Anerkennung verfügt. Auf die Frage, ob er eine fehlende Anerkennung zu vertreten habe, komme es daher nicht an. Im Übrigen sei diese Frage zu verneinen und die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts mit dem Aarhus-Übereinkommen und Unionsrecht nicht vereinbar.

8 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. August 2021 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.

9 Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

10 Er verteidigt das angefochtene Urteil.

11 Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich nicht an dem Verfahren.

II

12 Die zulässige Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (1.). Es stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (2.). Das Bundesverwaltungsgericht hebt deshalb das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurück (3.).

13 1. Das Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

14 Die entscheidungstragende Erwägung, dass dem Kläger ein Verbandsklagerecht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG nicht zustehe, weil die danach erforderliche Anerkennung nach § 3 UmwRG eine Zugangsvoraussetzung sei, die bereits bei Klageerhebung vorliegen müsse, der Kläger zu diesem Zeitpunkt - am 12. Januar 2021 - aber noch nicht anerkannt gewesen sei, steht mit Bundesrecht nicht im Einklang. Denn bei dem Erfordernis der Anerkennung handelt es sich entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht um eine Zugangs-, sondern um eine Sachentscheidungsvoraussetzung, die am Schluss der letzten mündlichen Verhandlung oder in den Fällen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts vorliegen muss (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 27. März 1998 - 4 C 14.96 - BVerwGE 106, 295 ) und wegen der Anerkennung des Klägers am 3. Februar 2021 am Schluss der mündlichen Verhandlung vom 4. August 2021 auch vorlag.

15 a) Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG kann eine nach § 3 UmwRG anerkannte inländische oder ausländische Vereinigung, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG wie die angefochtenen Planfeststellungsbeschlüsse einlegen, wenn die Vereinigung geltend macht, dass eine solche Entscheidung Rechtsvorschriften, die für die Entscheidung von Bedeutung sein können, widerspricht (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG), geltend macht, in ihrem satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes durch die Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG berührt zu sein (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UmwRG), und im Falle eines Verfahrens nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG, um das es hier geht, zur Beteiligung berechtigt war.

16 Bei diesen Voraussetzungen handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um Sachentscheidungsvoraussetzungen, für deren Beurteilung die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht maßgeblich sind (BVerwG, Urteil vom 2. November 2017 - 7 C 25.15 - Buchholz 445.41 § 27 WHG 2010 Nr. 3 Rn. 17 ff.; vgl. der Sache nach auch BVerwG, Urteile vom 15. Juli 2016 - 9 C 3.16 - Buchholz 406.403 § 34 BNatSchG 2010 Nr. 14 Rn. 17 ff., 20 und vom 29. Juni 2017 - 3 A 1.16 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 77 Rn. 23 f. ). Dies gilt auch für die im vorliegenden Verfahren im Zentrum stehende Frage der Anerkennung der Vereinigung nach § 3 UmwRG. Denn auch insoweit stellt das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ab (BVerwG, Urteil vom 16. September 2021 - 7 A 5.21 - DVBl 2022, 356 Rn. 18). Die gegenteilige Auffassung des Oberverwaltungsgerichts findet im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juli 2020 - 4 VR 7.19 , 4 VR 3.20 - (NVwZ 2021, 723 Rn. 10) keine Stütze, weil dieser keine Aussage zu Fällen enthält, in denen die Anerkennung erst nach Einlegung des Rechtsbehelfs erfolgt ist.

17 b) Dass es sich bei dem Erfordernis einer Anerkennung nach § 3 UmwRG um eine Sachentscheidungsvoraussetzung handelt, ergibt eine Auslegung von § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG nach Wortlaut, systematischem Zusammenhang, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte. Eine unionsrechtskonforme Auslegung bestätigt dieses Ergebnis.

18 aa) Schon der Wortlaut von § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG spricht eher gegen die Annahme einer - für die Verwaltungsgerichtsordnung unüblichen - Zugangsvoraussetzung.

19 Dass danach nur eine nach § 3 anerkannte Vereinigung "Rechtsbehelfe ... gegen eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 oder deren Unterlassen einlegen" kann, steht dem nicht entgegen. Die Formulierung lässt sich vielmehr dahin verstehen, dass nur anerkannten Vereinigungen die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung eingeräumt werden soll (Regelung der Klagebefugnis); zu dem Zeitpunkt für das Vorliegen der Anerkennung enthält die Norm keine Aussage.

20 Ein solches Verständnis drängt sich auf, wenn man den weiteren Wortlaut ("ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen") berücksichtigt, der verdeutlicht, dass anerkannten Vereinigungen eine Rechtsschutzmöglichkeit auch dann eröffnet wird, wenn die Voraussetzungen des § 42 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Für die Auslegung als Norm zur Regelung der Klagebefugnis spricht des Weiteren, dass die Einlegung der Rechtsbehelfe "nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung" erfolgt. Sie richtet sich also nach dem allgemeinen verwaltungsprozessrechtlichen Grundsatz, dass für die Beurteilung des Vorliegens der Sachentscheidungsvoraussetzungen der Zeitpunkt des Schlusses...

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