Urteil vom 14.12.2023 - BVerwG 3 C 10.22
Jurisdiction | Germany |
Judgment Date | 14 Diciembre 2023 |
Neutral Citation | BVerwG 3 C 10.22 |
ECLI | DE:BVerwG:2023:141223U3C10.22.0 |
Citation | BVerwG, Urteil vom 14.12.2023 - 3 C 10.22 - |
Record Number | 141223U3C10.22.0 |
Registration Date | 26 Marzo 2024 |
Court | Das Bundesverwaltungsgericht |
Applied Rules | StVG § 2,StGB §§ 52 f.,FeV § 11 Abs. 8 Satz 1, § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und d, Nr. 8.1 der Anlage 4 |
BVerwG 3 C 10.22
- VG Düsseldorf - 23.05.2019 - AZ: 6 K 4858/18
- OVG Münster - 19.01.2022 - AZ: 16 A 2670/19
In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Tegethoff und Dr. Sinner
für Recht erkannt:
- Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Januar 2022 wird zurückgewiesen
- Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
1 Die Klägerin begehrt die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis.
2 Das Amtsgericht K. verurteilte sie am 26. September 2016 wegen in Tatmehrheit im Sinne von § 53 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) begangener fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr sowie vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort rechtskräftig zu einer (Gesamt-)Geldstrafe, entzog ihr die Fahrerlaubnis und verhängte eine Sperrfrist für die Neuerteilung. Nach den im Strafurteil getroffenen Feststellungen fuhr die Klägerin am 2. April 2015 gegen 21:15 Uhr mit ihrem PKW in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand (Blutalkoholkonzentration von 0,68 Promille) auf den Parkplatz eines Supermarkts. Nach dem Einkauf parkte sie rückwärts aus und fuhr in einen hinter ihrem Fahrzeug stehenden PKW. Sie stieg aus und betrachtete den entstandenen Schaden. Dann fuhr sie in ihre Wohnung zurück, ohne die erforderlichen Unfallfeststellungen treffen zu lassen. Zu Hause trank sie nach eigenen Angaben bis zum Eintreffen der Polizei zwei Gläser Rotwein. Ihr wurden um 22:46 Uhr und um 23:24 Uhr Blutproben entnommen; sie wiesen Blutalkoholkonzentrationen von 1,48 und 1,37 Promille auf.
3 Als die Klägerin beim Beklagten im März 2018 die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis beantragte, forderte er von ihr gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und d der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. Wegen des Strafurteils vom 26. September 2016, das von zwei selbständigen Trunkenheitsfahrten mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,68 Promille ausgehe, bestünden Zweifel an ihrer Kraftfahreignung. Sie habe am 2. April 2015 wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen; zwischen den beiden Fahrten liege eine Zäsur.
4 Da der Beklagte trotz der von der Klägerin vorgetragenen Einwände an der Aufforderung festhielt, hat sie am 4. Juni 2018 beim Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage erhoben.
5 Mit Bescheid vom 3. Juli 2018 lehnte der Beklagte den Neuerteilungsantrag der Klägerin ab und setzte eine Verwaltungsgebühr sowie Zustellauslagen in Höhe von insgesamt 258,14 € fest. Nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV sei wegen der Nichtbeibringung des medizinisch-psychologischen Gutachtens auf ihre fehlende Fahreignung zu schließen. Die Klägerin hat den Bescheid in das Klageverfahren einbezogen.
6 Das Verwaltungsgericht hat ihre Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen die erstinstanzliche Entscheidung geändert und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids verpflichtet, ihr die Fahrerlaubnis für die Klassen AM, A1, B und L neu zu erteilen. Zur Begründung wird ausgeführt: Die Klage sei begründet. Die Klägerin erfülle im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die (Neu-)Erteilungsvoraussetzungen. Es sei nicht erkennbar, dass ihr wegen Alkoholmissbrauchs nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung die Fahreignung fehle. Der Beklagte habe nicht gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf ihre Nichteignung schließen dürfen, weil sie das geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht vorgelegt habe. Die Beibringensaufforderung habe er nicht auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV stützen dürfen. Bei dem Geschehen am 2. April 2015 habe es sich nicht um wiederholte Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Sinne dieser Regelung gehandelt. Voraussetzung dafür wäre, dass der Betroffene in mindestens zwei vom äußeren Ablauf her eigenständigen Lebenssachverhalten je eine (oder mehrere) Zuwiderhandlung(en) im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen habe. Es müsse sich bei natürlicher Betrachtungsweise um mindestens zwei deutlich voneinander abgrenzbare Trunkenheitsfahrten gehandelt haben. Der Wortlaut der Regelung sei für die Frage, wann wiederholte Zuwiderhandlungen vorlägen, nicht hinreichend aussagekräftig. Auch die systematische Auslegung gebe insoweit keine klare Antwort. Wegen der Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Tatbeständen des § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV sei in den Blick zu nehmen, dass nach dem Buchstaben c erst bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille die Beibringung eines Gutachtens anzuordnen sei. Um einen Wertungswiderspruch zu vermeiden, könnte das ein Anhaltspunkt dafür sein, beim Buchstaben b, wo bereits eine Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille ausreiche, erhöhte Anforderungen an die Annahme einer wiederholten Zuwiderhandlung zu stellen. In die gleiche Richtung weise die Entstehungsgeschichte der Regelung. In der Entwurfsbegründung heiße es zum Buchstaben b, die Maßnahme sei bereits bei einem wiederholten Alkoholverstoß zu ergreifen. Der Begriff "Alkoholverstoß" bezeichne typischerweise den gesamten Lebenssachverhalt einer Fahrt unter Alkoholeinfluss. Im Ergebnis hätten Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte aber nur eine geringe Aussagekraft. Deshalb komme dem Sinn und Zweck der Regelung erhebliche Bedeutung zu. § 13 Satz 1 FeV solle für die Zukunft alkoholbedingte Risiken für die Verkehrssicherheit so weit wie möglich ausschalten. Ob Wiederholungsgefahr bestehe, sei auf der Grundlage einer Prognose zu beurteilen. Daher sei von maßgeblicher Bedeutung, ob die Umstände des Einzelfalls berechtigte Zweifel an der künftigen Trennung des Alkoholkonsums vom Führen eines Kraftfahrzeugs begründeten. Das hänge im Rahmen der hier vorzunehmenden Gesamtbetrachtung insbesondere vom zeitlichen und räumlichen Ablauf bzw. von der Dauer und Qualität der Fahrtunterbrechung ab. Danach sei das Verhalten der Klägerin am 2. April 2015 als eine einmalige und einheitliche Trunkenheitsfahrt zu werten, die dem Einkauf gedient habe. Bei dem Ausparkunfall mit dem anschließenden Aussteigen und Betrachten der Fahrzeuge handele es sich um eine kurzzeitige Unterbrechung, die - auch zusammen mit der vorherigen Fahrtunterbrechung zum Einkauf - fahrerlaubnisrechtlich keinen neuen und eigenständigen Lebenssachverhalt begründet habe. Parkplatzunfälle kämen häufig vor und beruhten vielfach nur auf einer (leichten) Unachtsamkeit, ohne dass eine Alkoholisierung vorliege. Deshalb indiziere ein solcher Unfall nicht ohne Weiteres, dass dessen Ursache im Alkoholkonsum gelegen habe. Solchen Unfällen komme nicht unbedingt die Wirkung zu, den einheitlichen Lebenszusammenhang der Fahrt zu beenden. Hier habe der Unfall nur zu einer kurzen Fahrtunterbrechung geführt. Die Klägerin habe nach dem Unfall die vorher geplante Fahrstrecke auch nicht erheblich geändert. Die kurze Unterbrechung durch den Einkauf führe ebenfalls nicht dazu, dass von wiederholten Zuwiderhandlungen auszugehen sei. Die Aufforderung, das medizinisch-psychologische Gutachten beizubringen, habe auch nicht auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt werden können. Die weiteren Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis seien erfüllt.
7 Zur Begründung seiner Revision macht der Beklagte geltend: Das Berufungsgericht habe die Anwendbarkeit von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV zu Unrecht verneint. Durch den Unfall sei eine Zäsur eingetreten, so dass von zwei Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Sinne dieser Regelung auszugehen sei. Ob das der Fall sei, müsse nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift auch mit Blick darauf beantwortet werden, ob das Handeln Ausdruck einer mangelnden Trennung von Alkoholkonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen sei. Das lege hier der Umstand nahe, dass die Klägerin auch nach der Kollision keine Veranlassung gesehen habe, die Weiterfahrt zu unterlassen. Damit habe sie eine besondere zusätzliche Gleichgültigkeit gegenüber den Erfordernissen des Straßenverkehrs an den Tag gelegt.
8 Die Klägerin tritt der Revision entgegen und verteidigt das angegriffene Berufungsurteil. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV sei nicht anwendbar, wenn - wie hier - eine Tat im strafprozessualen Sinne, also ein einheitlicher geschichtlicher Lebensvorgang, vorgelegen habe. Sie habe nicht die Möglichkeit gehabt, ihr Handeln vor dessen Fortsetzung noch einmal in zeitlicher Distanz zu überdenken.
9 Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht vertritt in Abstimmung mit dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr die Auffassung, die Heranziehung des materiell-strafrechtlichen Tatbegriffs sei nicht sachgerecht, da für die Eignungsbeurteilung eine Prognoseentscheidung zu treffen sei und es nicht - wie im Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht - um eine Sanktion gehe. Für die Annahme wiederholter Zuwiderhandlungen im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV komme es darauf an, ob mindestens zwei räumlich und zeitlich deutlich abgrenzbare Lebenssachverhalte einen problematischen Umgang mit Alkohol im Straßenverkehr nahelegten. Auch ein Unfall, der dem Betroffenen seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit habe zeigen müssen, führe nicht dazu, dass ein...
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