Urteil vom 14.12.2021 - BVerwG 1 C 40.20

JurisdictionGermany
Judgment Date14 Diciembre 2021
Neutral CitationBVerwG 1 C 40.20
ECLIDE:BVerwG:2021:141221U1C40.20.0
CitationBVerwG, Urteil vom 14.12.2021 - 1 C 40.20 -
Registration Date06 Abril 2022
Applied RulesRL 2013/32/EU Art. 13 Abs. 2, Art. 46,AufenthG § 12 Abs. 3, § 82 Abs. 1,AsylG § 10 Abs. 1 und 2 Satz 1 und 4, §§ 26, 74 Abs. 1,AsylVfG 1982 § 17 Abs. 1,BMG § 17 Abs. 1, § 19 Abs. 1 Satz 2, § 23 Abs. 1,GG Art. 19 Abs. 4,GRC Art. 41, 47,BGB § 121 Abs. 1
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number141221U1C40.20.0

BVerwG 1 C 40.20

  • VG Trier - 30.07.2018 - AZ: VG 6 K 5482/17.TR
  • OVG Koblenz - 05.06.2020 - AZ: OVG 13 A 11315/19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Dezember 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Dollinger sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Kläger wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Juni 2020 aufgehoben
  2. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten
Gründe I

1 Die Kläger machen die Feststellung von Abschiebungsverboten geltend.

2 Die Kläger zu 1. und 2. - afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens - reisten mit ihren drei zwischen 2002 und 2006 geborenen Kindern - den Klägern zu 3. bis 5. - im August 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihren im September 2016 gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt mit an sie unter ihrer Anschrift in S. adressiertem Bescheid vom 6. März 2017 ab und forderte sie unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. In der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung, die keinen Hinweis auf eine mögliche elektronische Dokumentenübermittlung enthielt, hieß es u.a., dass die Klage in deutscher Sprache abgefasst sein müsse.

3 Der am 6. März 2017 zur Post gegebene Bescheid des Bundesamtes konnte am 8. März 2017 nicht zugestellt werden, weil die Kläger am 1. März 2017 von S. nach B. umgezogen waren. Die von dem Kläger zu 1. unterschriebene Mitteilung über die Adressänderung ging am 14. März 2017 beim Bundesamt ein. Daraufhin stellte das Bundesamt den Klägern den Bescheid vom 6. März 2017 am 28. März 2017 abermals - nunmehr an die aktuelle Anschrift - zu.

4 Auf die dagegen am 7. April 2017 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit die Kläger ihre Anträge auf die Zuerkennung von Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von subsidiärem Schutz zurückgenommen haben. Im Übrigen hat es die Klage als unzulässig abgewiesen, da sie nicht fristgerecht erhoben worden sei. Die zweiwöchige Klagefrist sei mit der ersten, fingierten Zustellung des Bescheides vom 6. März 2017 in Lauf gesetzt worden. Die Kläger hätten am 1. März 2017 die Wohnung gewechselt und seien in die im Rubrum benannte Anschrift gezogen. Dies hätten sie - obgleich sie vorab in ihrer Muttersprache (Dari/Farsi) u.a. auf die Zustellungsvorschriften und deren Bedeutung hingewiesen worden seien - erst am 14. März 2017 (Eingang beim Bundesamt) und damit nicht unverzüglich angezeigt.

5 Auf Antrag der Kläger hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen und diese Berufung sodann durch Beschluss zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage gegen den mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid des Bundesamtes vom 6. März 2017 sei mangels Einhaltung der zweiwöchigen Klagefrist unzulässig. Die Kläger seien ihrer Obliegenheit zur unverzüglichen Anzeige der Änderung ihrer Anschrift nicht nachgekommen. Dafür wäre eine Mitteilung binnen einer Woche nach dem Umzug erforderlich gewesen; eine solche sei aber nicht erfolgt. Die verspätete Mitteilung ändere nichts daran, dass die Zustellung des Bescheids kraft Gesetzes mit der Aufgabe zur Post als bewirkt gelte und die dadurch in Lauf gesetzte Klagefrist bei Klageerhebung abgelaufen sei. Die neuerliche Zustellung nach Bestandskraft habe die bereits abgelaufene Klagefrist nicht neu in Lauf setzen können. Den Klägern sei schließlich auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

6 Die Kläger rügen mit der Revision, dass sowohl nach nationalem Recht als auch nach Unionsrecht hinsichtlich der Anzeige des Wechsels der Anschrift keine nach Tagen zu bestimmende Frist, sondern nur eine Obliegenheit zum zügigen Handeln bestehe. Dafür sei regelmäßig eine Frist von zwei Wochen angemessen, aber auch ausreichend. Eine kürzere Frist überspanne die Anforderungen an einen sorgfältigen und gewissenhaften Schutzsuchenden. Auch wenn es keiner Bedenkzeit zur Anzeige des Anschriftenwechsels bedürfe, sei zu berücksichtigen, dass es sich bei den Asylsuchenden um Personen aus einem anderen Kulturkreis handele, die im Umgang mit Behörden nicht vertraut seien. Selbst wenn man eine kürzere Frist für die Mitteilung der geänderten Anschrift annehme, komme es bei einer ohne schuldhaftes Zögern gegenüber Abwesenden abzugebenden Erklärung nicht auf den Eingang, sondern auf die rechtzeitige Absendung an. Andernfalls müsste der Betroffene in der Belehrung darauf ausdrücklich hingewiesen werden.

7 Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung. Die Klage sei verfristet. Der Lauf der Klagefrist sei durch die Zustellungsfiktion ausgelöst worden. Denn die spätere Anzeige über den Wechsel der Anschrift sei nicht unverzüglich erfolgt. Da die Anzeige für die Betroffenen von zentraler Bedeutung für ihre Rechtsverfolgung sei, müsse diese Obliegenheit auch aus laienhafter Sicht vordringlich erfüllt werden. Von besonderen Ausnahmen - wie etwa Erkrankungen - abgesehen, sei eine Anzeige nur unverzüglich, wenn sie binnen weniger Tage bis allenfalls einer Woche gemacht werde. Das Unionsrecht rechtfertige keine abweichende Betrachtung.

8 Der Vertreter des öffentlichen Interesses beteiligt sich nicht am Verfahren.

II

9 Die Revision der Kläger, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat Erfolg.

10 Der auf der Grundlage von § 130a Satz 2 VwGO ergangene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 10 Abs. 2 Satz 4 und Abs. 1 Halbs. 2 AsylG). Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, die Klage sei mangels Einhaltung der Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG unzulässig, tragend auf die in § 10 Abs. 2 Satz 1 und 4 AsylG geregelte Zustellfiktion gestützt, obgleich deren Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Da es an tatsächlichen Feststellungen zu den allein noch streitgegenständlichen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG fehlt, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

11 1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist grundsätzlich das Asylgesetz in seiner aktuellen Fassung (derzeit in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 , zuletzt geändert durch den am 15. Juli 2021 in Kraft getretenen Art. 9 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 - AsylG -). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT