Urteil vom 16. Februar 2023 - 1 BvR 1547/19
Court | Bundesverfassungsgericht (Deutschland) |
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rs20230216.1bvr154719 |
Citation | BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 16. Februar 2023 - 1 BvR 1547/19 -, Rn. 1-178, |
Judgement Number | 1 BvR 1547/19 |
Date | 16 a 2023 |
Leitsätze
zum Urteil des Ersten Senats vom 16. Februar 2023
- 1 BvR 1547/19 -
- 1 BvR 2634/20 -
Automatisierte Datenanalyse
- Werden gespeicherte Datenbestände mittels einer automatisierten Anwendung zur Datenanalyse oder -auswertung verarbeitet, greift dies in die informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) aller ein, deren Daten bei diesem Vorgang personenbezogen Verwendung finden
- Das Eingriffsgewicht einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung und die Anforderungen an deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung ergeben sich zum einen aus dem Gewicht der vorausgegangenen Datenerhebungseingriffe; insoweit gelten die Grundsätze der Zweckbindung und Zweckänderung. Zum andern hat die automatisierte Datenanalyse oder -auswertung ein Eigengewicht, weil die weitere Verarbeitung durch eine automatisierte Datenanalyse oder -auswertung spezifische Belastungseffekte haben kann, die über das Eingriffsgewicht der ursprünglichen Erhebung hinausgehen; insoweit ergeben sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne weitergehende Rechtfertigungsanforderungen
- Diese weitergehenden Anforderungen an die Rechtfertigung einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung variieren, da deren eigene Eingriffsintensität je nach gesetzlicher Ausgestaltung ganz unterschiedlich sein kann. Das Eingriffsgewicht wird insbesondere durch Art und Umfang der verarbeitbaren Daten und die zugelassene Methode der Datenanalyse oder -auswertung bestimmt. Der Gesetzgeber kann die Eingriffsintensität durch Regelungen zu Art und Umfang der Daten und zur Begrenzung der Auswertungsmethode steuern
- Ermöglicht die automatisierte Datenanalyse oder -auswertung einen schwerwiegenden Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, ist dies nur unter den engen Voraussetzungen zu rechtfertigen, wie sie allgemein für eingriffsintensive heimliche Überwachungsmaßnahmen gelten, also nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter, sofern für diese eine zumindest hinreichend konkretisierte Gefahr besteht. Das Erfordernis einer zumindest hinreichend konkretisierten Gefahr für besonders gewichtige Rechtsgüter ist nur dann verfassungsrechtlich verzichtbar, wenn die zugelassenen Analyse- und Auswertungsmöglichkeiten durch Regelungen insbesondere zur Begrenzung von Art und Umfang der Daten und zur Beschränkung der Datenverarbeitungsmethoden normenklar und hinreichend bestimmt in der Sache so eng begrenzt sind, dass das Eingriffsgewicht der Maßnahmen erheblich gemindert ist.
- Grundsätzlich kann der Gesetzgeber den Erlass der erforderlichen Regelungen zu Art und Umfang verarbeitbarer Daten und zu den zulässigen Datenverarbeitungsmethoden zwischen sich und der Verwaltung aufteilen. Er muss aber sicherstellen, dass unter Wahrung des Gesetzesvorbehalts insgesamt ausreichende Regelungen getroffen werden.
- Der Gesetzgeber muss die wesentlichen Grundlagen zur Begrenzung von Art und Umfang der Daten und der Verarbeitungsmethoden selbst durch Gesetz vorgeben.
- Soweit er die Verwaltung zur näheren Regelung organisatorischer und technischer Einzelheiten ermächtigt, hat der Gesetzgeber zu gewährleisten, dass die Verwaltung die für die Durchführung einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung im Einzelfall maßgeblichen Vorgaben und Kriterien in abstrakt-genereller Form festlegt, verlässlich dokumentiert und in einer vom Gesetzgeber näher zu bestimmenden Weise veröffentlicht. Das sichert auch die verfassungsrechtlich gebotene Kontrolle, die insbesondere durch Datenschutzbeauftragte erfolgen kann.
Verkündet
am 16. Februar 2023
Hoffmann
Regierungshauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1547/19 -
- 1 BvR 2634/20 -
über
die Verfassungsbeschwerden
I. |
1. der Frau (…), |
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2. |
des Herrn (…), |
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3. |
der Frau (…), |
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4. |
des Herrn (…), |
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5. |
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
-
1. Prof. Dr. Tobias Singelnstein,
(…)
- Bevollmächtigter zu Ziffer 1 bis 5 -
-
2. Rechtsanwältin Sarah Lincoln,
(…)
- Bevollmächtigte zu Ziffer 3 -
-
gegen
§ 25a des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) in der Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen vom 25. Juni 2018
(Gesetz- und Verordnungsblatt Hessen Seite 302)
- 1 BvR 1547/19 -,
II. |
1. der Frau (…), |
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2. |
der Frau (…), |
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3. |
der Frau (…), |
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4. |
der Frau (…), |
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5. |
der Frau (…), |
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6. |
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
-
1. Jun.-Prof. Dr. Sebastian Golla,
Universitätsstraße 150, 44801 Bochum
- Bevollmächtigter zu Ziffer 1 bis 6 -
-
2. Rechtsanwalt Dr. Bijan Moini,
(…)
- Bevollmächtigter zu Ziffer 6 -
gegen |
§ 49 des Hamburgischen Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei (PolDVG) in der Fassung des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei und zur Änderung weiterer polizeirechtlicher Vorschriften vom 12. Dezember 2019 (Gesetz- und Verordnungsblatt Hamburg Seite 485) |
- 1 BvR 2634/20 -
hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat –
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel,
Wolff
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. Dezember 2022 durch
für Recht erkannt:
- § 49 Absatz 1 Alternative 1 des Hamburgischen Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei (PolDVG) in der Fassung des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei und zur Änderung weiterer polizeirechtlicher Vorschriften vom 12. Dezember 2019 (Gesetz- und Verordnungsblatt Hamburg Seite 485) verstößt gegen Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes und ist nichtig.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 2634/20 zurückgewiesen.
- Die Freie und Hansestadt Hamburg hat den Beschwerdeführenden zwei Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 2634/20 zu erstatten.
- § 25a Absatz 1 Alternative 1 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) in der Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen vom 25. Juni 2018 (Gesetz- und Verordnungsblatt Hessen Seite 302) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.
- Bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 30. September 2023, gilt § 25a Absatz 1 Alternative 1 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit den folgenden Maßgaben fort: Eine Datenanalyse nach § 25a Absatz 1 Alternative 1 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung darf nur durchgeführt werden, wenn bestimmte, genügend konkretisierte Tatsachen den Verdacht begründen, dass eine besonders schwere Straftat im Sinne von § 100b Absatz 2 der Strafprozessordnung begangen wurde und aufgrund der konkreten Umstände eines solchen im Einzelfall bestehenden Verdachts für die Zukunft mit weiteren, gleichgelagerten Straftaten zu rechnen ist, die Leib, Leben oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährden, wenn das Vorliegen dieser Voraussetzungen und die konkrete Eignung der verwendeten Daten zur Verhütung der zu erwartenden Straftat durch eigenständig auszuformulierende Erläuterung begründet wird und wenn sichergestellt ist, dass keine Informationen in die Datenanalyse einbezogen werden, die aus Wohnraumüberwachung, Online-Durchsuchung, Telekommunikationsüberwachung, Verkehrsdatenabfrage, länger andauernder Observation, unter Einsatz von verdeckt ermittelnden Personen oder Vertrauenspersonen oder aus vergleichbar schwerwiegenden Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung gewonnen wurden.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 1547/19 zurückgewiesen.
- Das Land Hessen hat den Beschwerdeführenden zwei Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 1547/19 zu erstatten.
Inhaltsverzeichnis | |
Rn. | |
A. Sachbericht | 1 |
B. Zulässigkeit | 47 |
C. Begründetheit | 49 |
I. Grundrechtseingriff | 50 |
II. Verfassungsrechtliche Rechtfertigungsanforderungen | 51 |
1. Grundsätze der Zweckbindung und Zweckänderung | 55 |
a) Zweckwahrende Weiternutzung | 56 |
b) Zweckändernde Weiternutzung | 60 |
c) § 25a HSOG und § 49 HmbPolDVG | 65 |
2. Weitergehende befugnisspezifische Rechtfertigungsanforderungen | 66 |
a) Potenzielles Eigengewicht der automatisierten Datenanalyse oder -auswertung | 67 |
b) Generelle Maßstäbe | 71 |
aa) Variabilität der Anforderungen | 72 |
bb) Kriterien für die Bestimmung des Eingriffsgewichts | 75 |
(1) Grundsätze | 76 |
(2) Art und Umfang der Daten | 78 |
(3) Methoden der Analyse oder Auswertung | 90 |
cc) Korrespondierende Eingriffsvoraussetzungen | 103 |
(1) Voraussetzungen bei hohem Eigengewicht | 104 |
(2) Voraussetzungen bei weniger hohem Eigengewicht | 107 |
(3) Bloße Zweckbindung bei keinem Eigengewicht | 108 |
(4) Anforderungen an |
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