Urteil vom 17.08.2021 - BVerwG 1 C 38.20

JurisdictionGermany
Judgment Date17 Agosto 2021
Neutral CitationBVerwG 1 C 38.20
ECLIDE:BVerwG:2021:170821U1C38.20.0
Applied RulesDublin III-VO Art. 29 Abs. 1 und 2 Satz 2 Alt. 2,AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a,Dublin-DVO Art. 7 Abs. 1 Buchst. a
Registration Date09 Diciembre 2021
Record Number170821U1C38.20.0
Subject MatterAsylrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 38.20 -

BVerwG 1 C 38.20

  • VG Berlin - 04.09.2018 - AZ: VG 9 K 844.17 A
  • OVG Berlin-Brandenburg - 10.06.2020 - AZ: OVG 12 B 40.18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. August 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. Juni 2020 wird zurückgewiesen
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützte Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig.

2 Der Kläger reiste nach eigenen Angaben im Oktober 2017 in das Bundesgebiet ein und stellte am 9. November 2017 einen Asylantrag. Zuvor hatte er ausweislich einer Eurodac-Treffermeldung in Dänemark einen Asylantrag gestellt.

3 Nachdem die dänischen Behörden am 17. November 2017 einem Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zugestimmt hatten, lehnte dieses mit Bescheid vom gleichen Tage den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Dänemark an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (a.F.) auf drei Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Hiergegen erhob der Kläger am 28. November 2017 Klage.

4 Am 24. April 2018 erfolgte ein Überstellungsversuch, der abgebrochen wurde, weil der Kläger nicht in seinem Zimmer in der Unterkunft angetroffen wurde. Das Bundesamt teilte daraufhin der Ausländerbehörde mit, dass sich die Überstellungsfrist nicht geändert habe und weiterhin am 17. Mai 2018 ende.

5 Mit Schreiben vom 4. Mai 2018 forderte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten des Landes Berlin (Ausländerbehörde) den Kläger unter Berufung auf § 58 AufenthG auf, sich am 17. Mai 2018 um 7:30 Uhr zur Durchführung der Abschiebung beim Polizeipräsidenten in Berlin einzufinden. Anlässlich der Ausstellung einer Grenzübertrittsbescheinigung durch die Ausländerbehörde am 8. Mai 2018 wurde er für den Fall der Nichtbefolgung zur Wiedervorsprache (ebenfalls) am 17. Mai 2018 aufgefordert.

6 Der Kläger erschien am 17. Mai 2018 nicht an dem in der Selbstgestellungsaufforderung bezeichneten Ort, sondern um 10:18 Uhr bei der Ausländerbehörde. Am gleichen Tage teilte das Bundesamt den dänischen Behörden mit, dass die Überstellungsfrist nunmehr gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO am 17. Mai 2019 ende.

7 Das Verwaltungsgericht gab mit Beschluss vom 28. Juni 2018 einem Antrag des Klägers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Untersagung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen unter Berufung auf den Ablauf der Überstellungsfrist statt und hob mit Gerichtsbescheid vom 4. September 2018 den Bescheid des Bundesamtes vom 17. November 2017 auf.

8 Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 10. Juni 2020 zurückgewiesen. Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens sei mit Ablauf des 17. Mai 2018 auf die Beklagte übergegangen. Die an diesem Datum vorgenommene Anzeige der Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate sei ins Leere gegangen, weil die Voraussetzungen des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Dublin-DVO nicht vorgelegen hätten. Der Kläger sei nicht flüchtig im Sinne der genannten Vorschrift, weil er der Aufforderung der Ausländerbehörde zur sog. Selbstgestellung nicht Folge geleistet habe. Das Berufungsurteil nimmt zur Begründung Bezug auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Februar 2020 (OVG 3 B 22.19 ), wonach ein gezieltes Entziehen und somit ein Flüchtigsein grundsätzlich nur in Betracht komme, wenn die Überstellung eines Asylbewerbers deswegen scheitere, weil sein Aufenthaltsort den zuständigen Behörden unbekannt sei. Es lasse sich nicht feststellen, dass der Kläger bei dem ersten Überstellungsversuch am 24. April 2018 gezielt "untergetaucht" sei, was die Beklagte auch nicht behaupte. Dass er am 17. Mai 2018 nicht bei dem Polizeipräsidenten erschienen sei, sei für die unterbliebene Überstellung nicht ausschlaggebend gewesen. Trotz des Nichterscheinens des Klägers zum Selbstgestellungstermin sei es der Ausländerbehörde noch möglich gewesen, den Kläger im Wohnheim aufzusuchen und zum Flughafen zu verbringen, oder ihn, nachdem er um 10:18 Uhr bei der Ausländerbehörde erschienen war, festzuhalten und mit einem späteren Flug bzw. auf dem Landweg nach Dänemark zu verbringen. Unter diesen Umständen fehle es an tragfähigen Anhaltspunkten, dass die Überstellung nach Dänemark wegen fehlender Mitwirkung des Klägers objektiv unmöglich gewesen sei.

9 Zur Begründung ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. der Dublin III-VO und macht im Wesentlichen geltend, der Begriff des Flüchtigseins umfasse auch den Fall der Nichtbefolgung einer sogenannten Selbstgestellungsaufforderung. Nicht von Relevanz sei dabei, ob eine - auch für den letzten Tag der Überstellungsfrist - mit dem zuständigen Mitgliedstaat konkret abgestimmte Überstellung auf anderem Weg noch kurzfristig durchgeführt werden könne. Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber auch Konstellationen der vorliegenden Art vom Begriff des Flüchtlingseins grundsätzlich mit habe umfassen bzw. jedenfalls nicht ausschließen wollen, lieferten die unterschiedlichen Sprachfassungen und die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin III-VO. Soweit die Regelungen auf eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates zielten, setze dies die unbeeinträchtigte Möglichkeit eines Vollzugs der Überstellung innerhalb der Regelfrist von sechs Monaten voraus, was impliziere, dass auch der Drittstaatsangehörige keine Verhaltensweisen zeige, die sich nachhaltig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkten. Es könne keinen Unterschied machen, ob er aufgefordert sei, sich zum Zweck der Überstellung an einem bestimmten Ort einzufinden, oder ihm auferlegt werde, an dem zugewiesenen Aufenthaltsort zu verbleiben. Hinsichtlich der erforderlichen Kausalität des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen reiche bereits die vorübergehende bzw. zeitlich befristete Unmöglichkeit der Überstellung aus. Erscheine der Betroffene nicht zur Selbstgestellung, sei der Behörde in diesem Zeitpunkt der Vollzug der Überstellung nicht nur erschwert, sondern tatsächlich unmöglich. Das Berufungsgericht habe auch keine tatsächlichen Feststellungen zu seiner Annahme getroffen, die Überstellung sei bis zum Ablauf des Tages auf anderem Wege möglich gewesen, so dass sich die darauf gestützte Argumentation des Berufungsgerichts als verfahrensfehlerhaft darstelle.

10 Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.

11 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.

II

12 Die zulässige Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Berufungsgericht die Aufhebung der gegen den Kläger ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung bestätigt. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG liegen nicht vor, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist von Dänemark auf Deutschland übergegangen ist. Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil die Voraussetzungen für die Annahme, der Kläger sei flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, nicht vorlagen (1.). Die Unzulässigkeitsentscheidung kann nicht in eine andere (Unzulässigkeits-)Entscheidung umgedeutet werden (2.). Zu Recht hat das Berufungsgericht auch die Aufhebung der Folgeentscheidungen durch das Verwaltungsgericht bestätigt (3.).

13 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des auf die Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 17. November 2017 gerichteten Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798)...

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