Urteil vom 17.11.2020 - BVerwG 1 C 8.19

JurisdictionGermany
Judgment Date17 Noviembre 2020
Neutral CitationBVerwG 1 C 8.19
ECLIDE:BVerwG:2020:171120U1C8.19.0
Applied RulesAsylG § 13 Abs. 1, § 26 Abs. 1 bis 3 und 5 Satz 1 und 2, §§ 26a, 29 Abs. 1 Nr. 2 und 3, § 31 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4,RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. a,GRC Art. 4, 7 und 24,EMRK Art. 8,RL 2011/95/EU Art. 3, 23 Abs. 2
Registration Date09 Febrero 2021
Record Number171120U1C8.19.0
Subject MatterAsylrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 17.11.2020 - 1 C 8.19

BVerwG 1 C 8.19

  • VG Magdeburg - 23.10.2017 - AZ: VG 8 A 413/17 MD
  • OVG Magdeburg - 19.02.2019 - AZ: OVG 4 L 201/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
für Recht erkannt:

  1. Das Revisionsverfahren wird eingestellt, soweit die Beklagte die Revision zurückgenommen hat.
  2. Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
  3. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe I

1 Der Kläger wendet sich gegen die auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte Ablehnung seines Asylantrags mit dem Ziel der Zuerkennung des internationalen Familienschutzes nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG als unzulässig.

2 Der Kläger ist eigenen Angaben zufolge somalischer Staatsangehöriger. Er ist Vater dreier in den Jahren 2006, 2007 und 2008 geborener Kinder.

3 Auf seinen aus Dezember 2013 datierenden Antrag wurde ihm in Italien internationaler Schutz zuerkannt. Einen im Oktober 2015 im Bundesgebiet gestellten weiteren Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) auf der Grundlage des § 27a AsylG a.F. als unzulässig ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg. Im August 2017 begehrte der Kläger im Hinblick auf den Umstand, dass das Bundesamt seinen drei Kindern im Juni 2017 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hatte, die Zuerkennung internationalen Familienschutzes. Mit Bescheid vom 31. August 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers erneut, nunmehr auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, als unzulässig ab.

4 Auf die von dem Kläger erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht den Bescheid aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sei wegen des bestehenden Anspruchs des Klägers aus § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 AsylG nicht anwendbar. Die Norm erfasse nur den eigenen Anspruch des Ausländers auf Gewährung internationalen Schutzes, nicht hingegen auch einen abgeleiteten Anspruch auf internationalen Familienschutz. § 26 AsylG solle eine rasche und einheitliche Entscheidung ermöglichen, Verwaltungsaufwand vermeiden und Behörden und Verwaltungsgerichte entlasten. Die Norm sei zudem dazu bestimmt, den Familienverband zu schützen und integrationsverstärkend zu wirken. Sie ziele gerade auf eine Gewährung internationalen Schutzes in demselben Mitgliedstaat, weshalb dem Umstand der Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat nur ein minderes Gewicht beizumessen sei. Aus § 31 Abs. 4 AsylG lasse sich nicht schließen, dass § 26 AsylG nicht Vorrang gegenüber § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zukommen solle.

5 Zur Begründung ihrer Revision führt die Beklagte im Wesentlichen aus, der Umstand, dass der Gesetzgeber eine Kollisionsnorm allein für § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG, nicht jedoch auch für die weiteren Unzulässigkeitstatbestände geschaffen habe, lasse erkennen, dass bei diesen § 26 AsylG kein Vorrang gebühren solle. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG trage dem Gedanken Rechnung, dass ein Ausländer, der bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz erlangt habe, keiner weiteren Schutzanerkennung mehr bedürfe. Dem Zweck des Familienasyls, allen Angehörigen der Flüchtlingsfamilie zu einer raschen Integration und einem einheitlichen Rechtsstatus zu verhelfen, könne gegenüber dem zentralen Ziel des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, der Unterbindung von Sekundärmigration, kein durchgreifendes Gewicht zukommen. Antragstellern solle es nicht möglich sein, die zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten getroffene Zuständigkeitsbestimmung infrage zu stellen und sich durch illegale Weiterwanderung den schutzgewährenden Mitgliedstaat auszusuchen. Die zuständigkeitsbestimmenden Vorgaben der Art. 9 und 10 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 würden unterlaufen, dürfte der Betreffende nach erfolgreichem Abschluss seines Asylverfahrens in dem gewünschten Mitgliedstaat, in dem Familienangehörige ihren Aufenthalt genommen hätten, erneut ein Asylverfahren betreiben. Keine Bedeutung für die Auslegung des Verhältnisses zwischen § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und § 26 AsylG komme dem für die Anwendung des Familienasyls herangezogenen Gedanken der Verfahrenserleichterung zu, da der für die Überprüfung der Anwendungsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu betreibende Aufwand keinesfalls höher, vielmehr regelmäßig niedriger als derjenige für die Prüfung des § 26 AsylG sei.

6 Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil.

7 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat erklärt, sich nicht an dem Verfahren zu beteiligen.

II

8 Der Senat entscheidet über die Revision mit Einverständnis der Verfahrensbeteiligten auf der Grundlage einer im Einklang mit § 102a VwGO durchgeführten mündlichen Verhandlung.

9 1. Das Revisionsverfahren ist nach Maßgabe des § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit die Beklagte ihre Revision nach Maßgabe des § 140 Abs. 1 Satz 1 VwGO zurückgenommen hat.

10 2. Im Übrigen ist die Revision der Beklagten unbegründet. Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, der Unzulässigkeitstatbestand der Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union sei wegen des bestehenden Anspruchs des Klägers auf internationalen Familienschutz nicht anwendbar, steht mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) im Einklang.

11 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 165 der am 27. Juni 2020 in Kraft getretenen Elften Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, sind zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Rechtslage zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts allerdings nicht geändert.

12 Die Unzulässigkeit eines Asylantrages bei Schutzgewähr durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) steht einer (erneuten) Schutzgewährung "aus eigenem Recht" wegen dem Ausländer im Herkunftsland selbst drohender Gefahren entgegen (a), hindert aber nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes nach...

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