Urteil vom 19.12.2023 - BVerwG 7 C 4.22

JurisdictionGermany
Judgment Date19 Diciembre 2023
Neutral CitationBVerwG 7 C 4.22
ECLIDE:BVerwG:2023:191223U7C4.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 19.12.2023 - 7 C 4.22 -
Record Number191223U7C4.22.0
Registration Date26 Marzo 2024
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesBNatSchG § 3 Abs. 2, § 44 Abs. 1 Nr. 1, § 45 Abs. 7, § 45b Abs. 8,BImSchG § 17 Abs. 1 Satz 1, § 21,VwVfG § 48

BVerwG 7 C 4.22

  • OVG Lüneburg - 05.07.2022 - AZ: 12 KS 121/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2023
durch
den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Günther, Dr. Löffelbein,
Dr. Wöckel und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bähr
am 19. Dezember 2023 für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Klägerin wird zurückgewiesen
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Die Klägerin wendet sich gegen die nachträgliche Anordnung von Abschaltzeiten für immissionsschutzrechtlich genehmigte Windenergieanlagen, die der Vermeidung der Tötung von Fledermäusen dient.

2 Sie betreibt sechs in der Stadt L., Gemarkung ..., Flur ..., gelegene Windenergieanlagen (WEA 6 - 11), die jeweils eine Gesamthöhe von 99,50 m aufweisen (Windpark L. ...). Diese Windenergieanlagen wurden durch immissionsschutzrechtlichen Bescheid vom 3. November 2006, geändert durch Bescheid vom 14. August 2007, gegenüber der Rechtsvorgängerin der Klägerin genehmigt. Im Juli 2019 informierte eine Umweltorganisation die Beklagte über Totfunde verschiedener Arten von Fledermäusen in den Jahren 2012 bis 2018 im Gebiet des Windparks. Im Dezember 2019 erhielt die Beklagte den Entwurf des im Rahmen der Flächennutzungsplanung der Stadt L. erstellten Berichts über eine Kartierung von Avifauna und Fledermäusen zur Ermittlung von Potenzialflächen für die Windenergie (Kartiergutachten). Das im Kartiergutachten untersuchte "Vorranggebiet L. S." ist identisch mit dem Windpark L. ... Das Kartiergutachten erbrachte Hinweise auf erhebliche artenschutzrechtliche Konflikte mit den Bestandsanlagen.

3 Mit Bescheid vom 25. Februar 2021 ordnete die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Abschaltung der sechs Windenergieanlagen für den Zeitraum vom 15. April bis zum 31. August eines Jahres jeweils von Sonnenuntergang bis zwei Stunden vor Sonnenaufgang an, wenn - gleichzeitig - Temperaturen von mindestens 10 Grad, Windgeschwindigkeiten von höchstens 6 m/s und kein Regen gegeben sind. Die Anordnung stützte sich auf § 3 Abs. 2 BNatSchG. Der Betrieb der Windenergieanlagen verstoße gegen das Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG. Das Gebiet des Windparks L. ... sei sowohl bevorzugtes Jagdquartier für lokale Fledermauspopulationen als auch eine wichtige Flug- bzw. Zugroute für migrierende Tiere. Die Fledermauserfassung des Kartiergutachtens weiche zwar von den Empfehlungen des niedersächsischen Artenschutzleitfadens ab. Da die Untersuchungsergebnisse jedoch ohne vernünftigen Zweifel eindeutig auf ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko schließen ließen, sei es ausgeschlossen, dass zusätzlich gewonnene Daten zu einer anderen Bewertung der Situation führten. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer artenschutzrechtlichen Ausnahme seien nicht erfüllt, da lediglich eine geringfügige Minderung des Ertrags regenerativer Energien in Rede stehe. Temporäre Abschaltungen stellten eine zumutbare Alternative dar. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2021, zugestellt am 30. Juli 2021, wurde der Bescheid vom 25. Februar 2021 aufgehoben, soweit die dortigen Anordnungen die WEA 7, 8 und 10 betrafen. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

4 Bereits am 28. Juli 2021 hatte die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben. Die Beteiligten haben den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt, soweit die Anordnungen des Bescheids vom 25. Februar 2021 die WEA 7, 8 und 10 betrafen. Hinsichtlich der WEA 6, 9 und 11 hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 5. Juli 2022 die Klage abgewiesen. Die Beklagte könne die Anordnung auf § 3 Abs. 2 BNatSchG stützen. Das Umweltschadensgesetz sei nicht anwendbar. Die bestandskräftige immissionsschutzrechtliche Genehmigung schließe ein Tätigwerden der Naturschutzbehörde auf der Grundlage von § 3 Abs. 2 BNatSchG nicht generell aus. Der Betrieb der WEA 6, 9 und 11 führe zu einem Verstoß gegen § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG. Einbußen für die von der Anordnung betroffenen Anlagen von ca. 3 Prozent des Umsatzes und etwa 6 000 € pro Jahr je Anlage begründeten keinen unverhältnismäßigen Eingriff. Die grundsätzliche Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 45 Abs. 7 BNatSchG verlange nicht, (zunächst) von einer Abschaltanordnung abzusehen. Die Naturschutzbehörde müsse nur prüfen, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 45 Abs. 7 BNatSchG offenkundig vorliegen.

5 Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, § 3 Abs. 2 BNatSchG sei als Generalklausel nicht geeignet, in bestandskräftige Rechtspositionen einzugreifen. Die Norm genüge für solche Anordnungen nicht dem Parlamentsvorbehalt. Ein Eingriff in bestehende und genehmigte Vorhaben könne nur anhand einer (Teil-)Aufhebung der Genehmigung gerechtfertigt werden. Der genehmigungskonforme Betrieb einer Windenergieanlage führe nicht zur Verwirklichung des artenschutzrechtlichen Tötungsverbots, weil das Vorhaben Teil des allgemeinen Lebensrisikos werde. Die im Kartiergutachten verfolgte Methodik entspreche nicht den Vorgaben des niedersächsischen Artenschutzleitfadens, die auch bei nachträglichen Anordnungen zugrunde zu legen seien. Es könne nicht methodisch einwandfrei ermittelt worden sein, dass sich die Windenergieanlagen in einem bevorzugten Jagdgebiet oder einer Hauptflugroute von besonders geschützten Fledermausarten befänden. Es sei nicht auszuschließen, dass es sich bei der Vielzahl von Fledermäusen, die bei wenigen repräsentativen Terminen festgestellt worden seien, lediglich um ein konzentriertes Zugereignis handele. Schließlich seien die Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung nach § 45 Abs. 7 BNatSchG erfüllt.

6 Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 5. Juli 2022 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juli 2021 aufzuheben.

7 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8 Sie verteidigt das angegriffene Urteil. § 3 Abs. 2 BNatSchG genüge den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie. Die einer Anlagengenehmigung eigene Legalisierungswirkung sei begrenzt und nehme nicht das Risiko ab, wegen später auftretender Gefahren ordnungsrechtlich in Anspruch genommen zu werden.

9 Die Vertreterin des Bundesinteresses hält Investitionsschutz- und Wirtschaftlichkeitsaspekte für nicht angemessen berücksichtigt. Als milderes Mittel sei die Erteilung einer artenschutzrechtlichen Ausnahme zu erwägen.

II

10 Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht mit Bundesrecht in Einklang. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juli 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

11 1. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2021, der der Durchsetzung des artenschutzrechtlichen Tötungs- und Verletzungsverbots nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG dient, kann sich auf die naturschutzrechtliche Generalklausel des § 3 Abs. 2 BNatSchG als Ermächtigungsgrundlage stützen. Deren Anwendung wird nicht durch das Gesetz über die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (Umweltschadensgesetz - USchadG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 5. März 2021 (BGBl. I S. 346) gesperrt (a). § 17 Abs. 1 Satz 1 BImSchG ist für die Durchsetzung des naturschutzrechtlichen Verbots tatbestandlich nicht einschlägig (b). Die für Errichtung und Betrieb der Windenergieanlagen der Klägerin erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung steht einer Anordnung nach § 3 Abs. 2 BNatSchG nicht generell entgegen (c). Es unterliegt auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dem Artenschutz dienende nachträgliche Beschränkungen des Betriebs immissionsschutzrechtlich genehmigter Anlagen auf § 3 Abs. 2 BNatSchG zu stützen (d).

12 a) Der Anordnung von Abschaltzeiten gestützt auf § 3 Abs. 2 BNatSchG stehen die Regelungen des Umweltschadensgesetzes nicht entgegen. Nach den von der Klägerin nicht angegriffenen und für das Revisionsgericht mithin bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) tatrichterlichen Feststellungen ist ein Umweltschaden in Gestalt eines Biodiversitätsschadens (§ 2 Nr. 1 Buchst. a USchadG i. V. m. § 19 BNatSchG; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 27. April 2023 - 10 C 3.23 - UPR 2023, 386 Rn. 32 ff.), der Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Umweltschadensgesetzes ist, nicht eingetreten.

13 b) § 17 Abs. 1 Satz 1 BImSchG kommt als - gegebenenfalls vorrangige - Rechtsgrundlage für den Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2021 tatbestandlich nicht in Betracht. Die Vorschrift ermächtigt zu nachträglichen Anordnungen zur Erfüllung der sich aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen ergebenden Pflichten. Zu diesen immissionsschutzrechtlichen Pflichten gehört das im Bundesnaturschutzgesetz geregelte artenschutzrechtliche Tötungs- und Verletzungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG nicht. Andere öffentlich-rechtliche Vorschriften können nachträglich nicht auf § 17 Abs. 1 BImSchG gestützt durchgesetzt werden, sondern nur auf der Grundlage des jeweils einschlägigen Fachrechts (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Oktober 2008 - 7 C 48.07 - BVerwGE 132, 224 Rn. 28 f., vom 30. April 2009 - 7 C 14.08 - NVwZ 2009, 1441 Rn. 24 f. und vom 21. Dezember 2011 - 4 C 12.10 - BVerwGE 141, 293 Rn. 18; Beschluss vom 8. November 2016 ‌- 3 B 11.16...

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