Urteil vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:es20220322.2bve000220 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Rn. 1-123, |
Judgement Number | 2 BvE 2/20 |
Date | 22 Marzo 2022 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Zweiten Senats vom 22. März 2022
- 2 BvE 2/20 -
- Der Schutzbereich von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erstreckt sich auf sämtliche Gegenstände der parlamentarischen Willensbildung
- Einschränkungen der Mitwirkungsbefugnisse des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG müssen dem Schutz gleichwertiger Verfassungsgüter dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen
- Die Funktionsfähigkeit des Parlaments stellt ein gleichwertiges Rechtsgut von Verfassungsrang dar, das grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen der Beteiligungsmöglichkeiten der Abgeordneten zu rechtfertigen. Dabei obliegt die Konkretisierung des zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments Erforderlichen zunächst dem Parlament selbst
- Anwendung und Auslegung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages unterliegen nur eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Prüfung. Insoweit findet lediglich eine am Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung orientierte Kontrolle evidenter Sachwidrigkeit statt.
- Bei einer Beschränkung der Mitwirkungsbefugnisse des einzelnen Abgeordneten unter Rückgriff auf die Geschäftsordnungsautonomie ist eine verfassungsgerichtliche Kontrolle dahingehend geboten, ob den dabei zu beachtenden Rechtfertigungsanforderungen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung getragen ist.
Verkündet
am 22. März 2022
Uhr
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 2/20 -
über
den Antrag festzustellen,
dass der Antragsgegner dadurch gegen die Rechte des Antragstellers aus |
Antragsteller: |
Fabian Jacobi, MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, |
|
Antragsgegner: |
Präsident des Deutschen Bundestages, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, |
- Bevollmächtigter:
(…) -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. November 2021 durch
für Recht erkannt:
- Der Antrag wird zurückgewiesen.
Das mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Organstreitverfahren betrifft die Frage, ob aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG für einen Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Recht folgt, für die Wahl des Bundestagsvizepräsidenten im zweiten Wahlgang einen eigenen Kandidaten vorzuschlagen und über diesen Vorschlag abstimmen zu lassen.
A.
I.
1. Der Antragsteller ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und gehört der Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) an. Die AfD-Fraktion hatte in der zurückliegenden Legislaturperiode mehrere Fraktionsmitglieder erfolglos für die Wahl zum Vizepräsidenten des 19. Deutschen Bundestages vorgeschlagen. Einer der sechs Stellvertreterpositionen des Bundestagspräsidenten, deren Anzahl der 19. Deutsche Bundestag in seiner konstituierenden Sitzung am 24. Oktober 2017 festgelegt hatte, blieb daher unbesetzt.
2. In der 98. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am 9. Mai 2019 schlug die AfD-Fraktion drei Kandidaten, darunter die Abgeordneten Podolay und Renner, zur Wahl eines Stellvertreters des Bundestagspräsidenten vor (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/98, S. 11709
3. In der 115. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am 26. September 2019 wurde – im ersten Wahlgang – über den von der AfD-Fraktion vorgeschlagenen Abgeordneten Podolay abgestimmt, der nicht die erforderliche Mehrheit erhielt (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/115, S. 14033 f.). Für die 124. Sitzung am 7. November 2019 wurde erneut die Wahl eines Stellvertreters des Bundestagspräsidenten – als zweiter Wahlgang – auf die Tagesordnung gesetzt. Die AfD-Fraktion schlug wiederum den Abgeordneten Podolay vor (vgl. BT-Plenarprotokoll, 19/124, S. 15347 ; BTDrucks 19/13963).
Der Antragsteller kündigte schriftlich an, den Abgeordneten Renner zur Wahl vorschlagen zu wollen. Der Antragsgegner teilte dem Antragsteller mit, dass der angekündigte Wahlvorschlag nicht zugelassen werde. Nach Aufruf des Tagesordnungspunktes erhielt der Antragsteller das Wort zur Geschäftsordnung und begründete seinen Antrag (vgl. BT-Plenarprotokoll 19/124, S. 15346), der jedoch von der sitzungsleitenden Vizepräsidentin mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen wurde, dass einem einzelnen Abgeordneten kein Vorschlagsrecht für die Wahl eines Vizepräsidenten zustehe (vgl. BT-Plenarprotokoll, 19/124, S. 15346 f.).
4. Rechtsgrundlage für die Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter ist Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit § 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT), der in der streitgegenständlichen Fassung lautet:
§ 2 Wahl des Präsidenten und der Stellvertreter
(1) 1 Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln (§ 49) in besonderen Wahlhandlungen den Präsidenten und seine Stellvertreter für die Dauer der Wahlperiode. 2 Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.
(2) 1 Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. 2 Ergibt sich im ersten Wahlgang keine Mehrheit, so können für einen zweiten Wahlgang neue Bewerber vorgeschlagen werden. 3 Ergibt sich auch dann keine Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, findet ein dritter Wahlgang statt. 4 Bei nur einem Bewerber ist dieser gewählt, wenn er die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. 5 Bei mehreren Bewerbern kommen die beiden Bewerber mit den höchsten Stimmenzahlen in die engere Wahl; gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. 6 Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los durch die Hand des amtierenden Präsidenten.
(3) 1 Weitere Wahlgänge mit einem im dritten Wahlgang erfolglosen Bewerber sind nur nach Vereinbarung im Ältestenrat zulässig. 2 Werden nach erfolglosem Ablauf des Verfahrens nach Absatz 2 neue Bewerber vorgeschlagen, ist neu in das Wahlverfahren gemäß Absatz 2 einzutreten.
II.
Der Senat hat den Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, den streitigen Zustand vorläufig dahingehend zu regeln, dass im Rahmen stattfindender Wahlen von Vizepräsidenten Wahlvorschläge von Abgeordneten des Deutschen Bundestages zur Abstimmung zu stellen sind, mit Beschluss vom 7. Juli 2021 abgelehnt. Der Antrag war bereits unzulässig, da er auf Rechtsfolgen gerichtet war, die im Organstreitverfahren nicht erreicht werden können, und es außerdem an einer substantiierten Darlegung der Dringlichkeit des Erlasses der begehrten einstweiligen Anordnung fehlte.
III.
1. Der Antragsteller macht geltend, dass er durch die Zurückweisung seines Wahlvorschlags in seinem Recht als Abgeordneter auf gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sei.
a) Der Antrag sei zulässig. Insbesondere lägen ein tauglicher Antragsgegenstand und die Antragsbefugnis vor. Die Anwendung der Bestimmungen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages könne Antragsgegenstand im Organstreit sein, wenn diese einen Abgeordneten von bestimmten Bereichen der parlamentarischen Tätigkeit ausschließe oder seine Mitwirkungsrechte beschränke. Die Antragsbefugnis sei gegeben, da der verfassungsrechtliche Status des Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das Recht umfasse, sich an den vom Parlament vorzunehmenden Wahlen zu beteiligen und hierfür Wahlvorschläge zu machen.
b) Der Antrag sei auch begründet.
aa) Der von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete Status des Abgeordneten beinhalte das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung. Zu den daraus abzuleitenden Befugnissen zähle das Recht, sich an den vom Parlament vorzunehmenden Wahlen zu beteiligen. Diese Beteiligung umfasse das Wahlvorschlagsrecht. Da Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG keine Einschränkung des Wahlvorschlagsrechts regele, liege dieses bei den Abgeordneten; jeder Abgeordnete sei vorschlagsberechtigt.
bb) § 2 GO-BT...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN-
Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 BvE 5/18
...beschreibt weder den Status der Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten (vgl. dazu BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Rn. 44 ff. m.w.N. – Wahl eines Vizepräsidenten des Bundestages - Vorschlagsrecht) noch führt sie aus, welche Mitwirkungsbefugnisse der Abge......
-
Beschluss vom 25. Mai 2022 - 2 BvE 10/21
...; 96, 223 ; 98, 139 ; 108, 34 ; 118, 111 ; 145, 348 ; 151, 58 ; 154, 1 ; 155, 357 ; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 7. Juli 2021 - 2 BvE 2/20 -, Rn. 24; Beschluss des Zweiten Senats vom 7. Juli 2021 - 2 BvE 9/20 -, Rn. 26). 2. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist......
-
Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 BvF 2/18
...an der parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken (vgl. BVerfGE 70, 324 ; 130, 318 ; 137, 185 ; BVerfG, Urteil vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Rn. 48 f. m.w.N. – Wahl eines Vizepräsidenten des Bundestages - Vorschlagsrecht). Den Abgeordneten steht nicht nur das Recht zu, im Deutschen Bu......
-
Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 BvE 5/18
...beschreibt weder den Status der Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten (vgl. dazu BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Rn. 44 ff. m.w.N. – Wahl eines Vizepräsidenten des Bundestages - Vorschlagsrecht) noch führt sie aus, welche Mitwirkungsbefugnisse der Abge......
-
Beschluss vom 25. Mai 2022 - 2 BvE 10/21
...; 96, 223 ; 98, 139 ; 108, 34 ; 118, 111 ; 145, 348 ; 151, 58 ; 154, 1 ; 155, 357 ; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 7. Juli 2021 - 2 BvE 2/20 -, Rn. 24; Beschluss des Zweiten Senats vom 7. Juli 2021 - 2 BvE 9/20 -, Rn. 26). 2. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist......
-
Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 BvF 2/18
...an der parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken (vgl. BVerfGE 70, 324 ; 130, 318 ; 137, 185 ; BVerfG, Urteil vom 22. März 2022 - 2 BvE 2/20 -, Rn. 48 f. m.w.N. – Wahl eines Vizepräsidenten des Bundestages - Vorschlagsrecht). Den Abgeordneten steht nicht nur das Recht zu, im Deutschen Bu......