Urteil vom 22. November 2023 - 1 BvR 2577/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rs20231122.1bvr257715 |
Judgement Number | 1 BvR 2577/15 |
Date | 22 Noviembre 2023 |
Citation | BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 22. November 2023 - 1 BvR 2577/15 -, Rn. 1-125, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Ersten Senats vom 22. November 2023
- 1 BvR 2577/15 -
- 1 BvR 2578/15 -
- 1 BvR 2579/15 -
Zeugnisbemerkungen
- Eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne liegt vor, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beeinträchtigungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen von Gewicht
- Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG findet auch Anwendung auf Benachteiligungen von Menschen mit einer bestimmten Behinderung gegenüber Menschen mit einer anderen Behinderung
- Der Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist auch dann eröffnet, wenn eine rechtliche Gleichbehandlung typischerweise und nach Art und Umfang vorhersehbar faktische Benachteiligungen wegen einer Behinderung zur Folge hat (im Anschluss an BVerfGE 128, 138 <156>)
- Ziel schulischer Bildung ist auch die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu Persönlichkeiten, die ihre individuelle Leistungsfähigkeit unabhängig von ihrer sozialen Herkunft entfalten und im Anschluss an die Schule ihrer Leistungsfähigkeit und Neigung entsprechend Ausbildungsgänge und Berufe frei wählen und zur Grundlage einer eigenverantwortlichen Lebensführung machen können. Dazu gehört es, der ungehinderten Entfaltung des individuell vorhandenen Leistungspotenzials entgegenstehende soziale Nachteile möglichst auszugleichen und vorhandene Begabungen durch ein differenziertes Bildungsangebot zu wecken und zu fördern. Unverzichtbar ist ein Bildungsangebot, das den Schülerinnen und Schülern zumindest die Chance eröffnet, sich zu Persönlichkeiten entwickeln zu können, die unabhängig von ihrer sozialen Herkunft in der Lage sind, überhaupt eine Ausbildung oder einen Beruf ergreifen zu können (im Anschluss an BVerfGE 159, 355 <383 f. Rn. 50 und 386 f. Rn. 57>).
- Das Abiturzeugnis dient als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife dem nach Art. 7 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihren erbrachten schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden. Diesem Ziel wird der Gesetzgeber in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen und die unterschiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschlusszeugnissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert wird.
- Bemerkungen in Schulabschlusszeugnissen über eine ansonsten nicht erkennbare, von den allgemeinen Prüfungsmaßstäben abweichende und auf Antrag erfolgte Nichtbewertung von Leistungen wegen behinderungsbedingter Einschränkungen sind zur Sicherung eines leistungsbezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf vor Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG grundsätzlich gerechtfertigt, wenn sie so umfassend erfolgen, dass insgesamt eine hinreichende Transparenz der Zeugnisse erreicht wird.
- Solche Bemerkungen sind jedenfalls in Abiturzeugnissen, die mit dem Nachweis der allgemeinen Hochschulreife einen grundsätzlichen Anspruch auf Studienzulassung für alle Fächer vermitteln, im Grundsatz geboten.
Verkündet
am 22. November 2023
Langendörfer
Tarifbeschäftigte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2577/15 -
- 1 BvR 2578/15 -
- 1 BvR 2579/15 -
über
die Verfassungsbeschwerden
I. |
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte: (…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts |
vom 7. Oktober 2015 - BVerwG 6 C 38.15 (6 C 33.14) - |
||
b) |
das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts |
|
vom 29. Juli 2015 - BVerwG 6 C 33.14 - |
- 1 BvR 2577/15 -,
II. |
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte: (…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts |
vom 7. Oktober 2015 - BVerwG 6 C 38.15 (6 C 33.14) - |
||
b) |
das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts |
|
vom 29. Juli 2015 - BVerwG 6 C 33.14 - |
- 1 BvR 2578/15 -,
III. |
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte: (…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts |
vom 7. Oktober 2015 - BVerwG 6 C 39.15 (6 C 35.14) - |
||
b) |
das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts |
|
vom 29. Juli 2015 - BVerwG 6 C 35.14 - |
- 1 BvR 2579/15 -
hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat –
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel,
Wolff,
Eifert,
Meßling
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28. Juni 2023 durch
für Recht erkannt:
- Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juli 2015 - BVerwG 6 C 33.14 und 6 C 35.14 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sachen werden zur Entscheidung über die Kosten an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
- Damit werden die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Oktober 2015 - BVerwG 6 C 38.15 und 6 C 39.15 - gegenstandslos.
- Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Inhaltsverzeichnis | |
Rn. | |
A. Sachbericht | 1 |
B. Zulässigkeit | 25 |
C. Begründetheit | 32 |
I. Vereinbarkeit der Zeugnisbemerkungen mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG | 33 |
1. Legasthenie als Behinderung | 35 |
2. Benachteiligung wegen Legasthenie | 44 |
a) Maßstab | 45 |
b) Subsumtion | 46 |
aa) Vorliegen einer Benachteiligung | 47 |
bb) Vergleichsgruppe 1: Benachteiligung gegenüber Schülern mit Bewertung der Rechtschreibung und ohne Zeugnisbemerkung | 49 |
cc) Vergleichsgruppe 2: Benachteiligung gegenüber Schülern mit anderen Behinderungen ohne Bewertung und ohne Zeugnisbemerkung | 51 |
dd) Vergleichsgruppe 3: Benachteiligung gegenüber Schülern ohne Zeugnisbemerkung und ohne Bewertung infolge Ermessens | 57 |
3. Rechtfertigung der Zeugnisbemerkungen | 58 |
a) Legitime Ziele der Zeugnisbemerkungen | 61 |
aa) Zulässige Bewertung der Rechtschreibleistungen im Abitur | 64 |
(1) Mittelbare Benachteiligung wegen Legasthenie | 66 |
(2) Gesetzesvorbehalt | 68 |
(3) Legitime Ziele der Bewertung der Rechtschreibleistungen | 73 |
(4) Geeignetheit der Bewertung der Rechtschreibleistungen | 81 |
(5) Erforderlichkeit der Bewertung der Rechtschreibleistungen | 86 |
(6) Angemessenheit der Bewertung der Rechtschreibleistungen | 87 |
bb) Sicherung eines leistungsgerechten Zugangs zu Ausbildung/Beruf durch Zeugnisbemerkungen | 92 |
b) Fehlende Möglichkeit der Vermeidung von Zeugnisbemerkungen durch Fördermaßnahmen | 94 |
c) Geeignetheit der Zeugnisbemerkungen | 100 |
d) Erforderlichkeit der Zeugnisbemerkungen | 102 |
e) Angemessenheit der Zeugnisbemerkungen | 103 |
aa) Gewichtung der Benachteiligung | 104 |
bb) Gewichtung des öffentlichen Interesses an einem leistungsgerechten Zugang zu Ausbildung/Beruf | 106 |
cc) Angemessenheit (Vergleichsgruppe 1) | 109 |
f) Rechtfertigung im konkreten Fall | 113 |
aa) Vergleichsgruppe 2 (Schüler mit anderen Behinderungen ohne Bewertung und ohne Zeugnisbemerkung) | 114 |
bb) Vergleichsgruppe 3 (Schüler ohne Zeugnisbemerkung und ohne Bewertung infolge Ermessens) | 117 |
4. Völkerrecht | 118 |
II. Vereinbarkeit der Zeugnisbemerkungen mit dem Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG | 120 |
D. Rechtsfolgen | 122 |
A.
Die Beschwerdeführer begehren die Entfernung einer Bemerkung über die Nichtbewertung ihrer Rechtschreibleistungen aus ihren im Freistaat Bayern erworbenen Abiturzeugnissen.
I.
Nach der bei Ablegung der Abiturprüfung durch die Beschwerdeführer im Jahre 2010 geltenden Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 16. November 1999, geändert durch Bekanntmachung vom 11. August 2000 (KWMBl I 1999, S. 379 und KWMBl I 2000, S. 403), wurde in Bayern bei Schülerinnen und Schülern mit einer fachärztlich festgestellten Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) auf ihren Antrag von einer Bewertung der Rechtschreibleistungen im Fach Deutsch abgesehen; in den weiterführenden Schulen wurden in den Fremdsprachen die schriftlichen Leistungen auf ihren Antrag gleich gewichtet wie die mündlichen Leistungen, während die schriftlichen Leistungen ansonsten doppelt gewichtet wurden. In der Abiturprüfung selbst wurde hingegen nur für das Fach Deutsch von einer Bewertung der Rechtschreibleistungen abgesehen. Allerdings hatten die Beschwerdeführer in der Abiturprüfung auch keine Fremdsprache mehr belegt. In das Zeugnis war nach der obigen Bekanntmachung die Bemerkung aufzunehmen: „Auf Grund einer fachärztlich...
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