Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2003:rs20030924.2bvr143602 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - Rn. (1-138), |
Date | 24 Septiembre 2003 |
Judgement Number | 2 BvR 1436/02 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
zum Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003
- 2 BvR 1436/02 -
- Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage
- Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1436/02 –
am 24.09.2003
Seiffge
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau L ...
Wendtstraße 17, 76185 Karlsruhe -
gegena) | das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2002 - BVerwG 2 C 21.01 -, |
b) | das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 26. Juni 2001 - 4 S 1439/00 -, |
c) | das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24. März 2000 - 15 K 532/99 -, |
d) | den Widerspruchsbescheid des Oberschulamts Stuttgart vom 3. Februar 1999 - 1 P L., F./13 -, |
e) | den Bescheid des Oberschulamts Stuttgart vom 10. Juli 1998 |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Hassemer,
Sommer,
Jentsch,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2003 durch
für Recht erkannt:
- Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2002 - BVerwG 2 C 21.01 -, das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 26. Juni 2001 - 4 S 1439/00 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24. März 2000 - 15 K 532/99 - und der Bescheid des Oberschulamts Stuttgart vom 10. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Februar 1999 - 1 P L., F./13 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 33 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 und mit Artikel 33 Absatz 3 des Grundgesetzes. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
- Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Baden-Württemberg haben der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren je zur Hälfte zu erstatten.
Die Beschwerdeführerin begehrt die Einstellung in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sie sich gegen die von den Verwaltungsgerichten bestätigte Entscheidung des Oberschulamts Stuttgart, durch die ihre Berufung in ein Beamtenverhältnis auf Probe als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen mit der Begründung abgelehnt worden ist, ihr fehle wegen der erklärten Absicht, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, die für das Amt erforderliche Eignung.
I.
1. Die 1972 in Kabul/Afghanistan geborene Beschwerdeführerin lebt seit 1987 ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland und hat 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Sie ist muslimischen Glaubens. Nach Ablegung der Ersten Staatsprüfung und Ableistung des Vorbereitungsdienstes bestand die Beschwerdeführerin 1998 die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen mit dem Schwerpunkt Hauptschule und den Ausbildungsfächern Deutsch, Englisch und Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre.
2. Den Antrag der Beschwerdeführerin auf Einstellung in den Schuldienst an Grund- und Hauptschulen des Landes Baden-Württemberg lehnte das Oberschulamt Stuttgart wegen mangelnder persönlicher Eignung ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei nicht bereit, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten. Das Kopftuch sei Ausdruck kultureller Abgrenzung und damit nicht nur religiöses, sondern auch politisches Symbol. Die mit dem Kopftuch verbundene objektive Wirkung kultureller Desintegration lasse sich mit dem Gebot der staatlichen Neutralität nicht vereinbaren.
3. In ihrem Widerspruch machte die Beschwerdeführerin geltend, das Tragen des Kopftuchs sei nicht nur Merkmal ihrer Persönlichkeit, sondern auch Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung. Nach den Vorschriften des Islam gehöre das Kopftuchtragen zu ihrer islamischen Identität. Die Ablehnungsentscheidung verletze das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Trotz der Verpflichtung des Staates, in Glaubensfragen Neutralität zu bewahren, müsse er bei der Erfüllung des Erziehungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG nicht völlig auf religiös-weltanschauliche Bezüge verzichten, sondern habe einen schonenden Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu ermöglichen. Anders als beim Kruzifix handele es sich beim Kopftuch nicht um ein Glaubenssymbol. Zudem gehe es hier um ihr individuelles und religiös motiviertes Handeln als Grundrechtsträgerin.
4. Das Oberschulamt Stuttgart wies den Widerspruch der Beschwerdeführerin zurück. Zwar verbiete Art. 33 Abs. 3 GG die Ablehnung eines Bewerbers allein wegen seines religiösen Bekenntnisses; er schließe aber nicht aus, an eine mit dem Bekenntnis verbundene mangelnde Eignung für den öffentlichen Dienst anzuknüpfen. Das Tragen des Kopftuchs aus Glaubensgründen falle zwar in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG. Die Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin werde durch das Grundrecht auf negative Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler, das Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG sowie die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulicher und religiöser Neutralität aber eingeschränkt. Auch wenn die Beschwerdeführerin nicht für ihre Glaubensüberzeugung missioniere, bringe sie doch durch das Tragen des Kopftuchs während des Unterrichts jederzeit und ohne dass sich die Schüler dem entziehen könnten, ihre Zugehörigkeit zum Islam zum Ausdruck; damit zwinge sie die Schüler, sich mit dieser Glaubensäußerung auseinander zu setzen. Als junge Menschen mit noch nicht gefestigter Persönlichkeit seien sie für Einflüsse jeder Art in besonderer Weise offen. Maßgeblich sei insoweit allein die objektive Wirkung des Kopftuchs. Gerade für Schülerinnen muslimischen Glaubens könne hier ein erheblicher Anpassungsdruck entstehen; das widerspräche dem pädagogischen Auftrag der Schule, auf Integration der muslimischen Schülerinnen und Schüler hinzuwirken.
5. Das Verwaltungsgericht Stuttgart wies die Klage der Beschwerdeführerin ab und führte zur Begründung aus: Das religiös motivierte Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin stelle einen Eignungsmangel im Sinne des § 11 Abs. 1 Landesbeamtengesetz Baden-Württemberg (LBG) dar. Der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin stünden die Neutralitätspflicht des Staates und die Rechte der Schüler und ihrer Eltern gegenüber.
Das von der Beschwerdeführerin getragene Kopftuch demonstriere auffallend und eindrucksvoll ihr Bekenntnis zum Islam; dabei sei unerheblich, dass das Kopftuch, anders als das Kruzifix für den christlichen Glauben, nicht als symbolischer Inbegriff des islamischen Glaubens gelte. Aufgrund der allgemeinen Schulpflicht und des fehlenden Einflusses der Schüler auf die Auswahl ihrer Lehrer bestehe für die Schüler keine Ausweichmöglichkeit. Daraus ergebe sich die Gefahr einer - auch ungewollten - Beeinflussung durch den als Respektsperson empfundenen Lehrer.
6. Die hiergegen gerichtete Berufung wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurück. Im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Einstellung eines Bewerbers sei bei der Beurteilung, ob der Bewerber geeignet sei, eine gerichtlich nur beschränkt überprüfbare Prognose anzustellen. Zur Eignung gehöre auch die Erwartung, dass der Bewerber seine Pflichten als Beamter erfüllen werde. Die Einschätzung, der Beschwerdeführerin fehle wegen des von ihr aus religiösen Gründen beabsichtigten Tragens eines Kopftuchs im Unterricht die Eignung für das angestrebte Amt einer Grund- und Hauptschullehrerin im öffentlichen Schuldienst, sei nicht zu beanstanden. Die persönliche Eignung von Lehrern sei auch danach zu bestimmen, inwieweit sie in der Lage seien, die auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 1 GG festgelegten Erziehungsziele umzusetzen und den staatlichen Erziehungsauftrag zu erfüllen. Mangels ursächlicher Anknüpfung an die Religionszugehörigkeit verstoße der Dienstherr nicht gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 33 Abs. 3 GG, wenn er die Einstellung ablehne, weil ein Bewerber die verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen im Unterricht aus religiösen Gründen nicht einhalten wolle.
In der Schule träfen die unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Schüler und ihrer Eltern besonders intensiv aufeinander. Der sich hieraus ergebende Konflikt erfordere einen Ausgleich in praktischer Konkordanz. Dabei müsse der Staat auf religiös-weltanschauliche Bezüge in der Schule nicht völlig verzichten. Auch müsse der Dienstherr bei der Eignungsbeurteilung die Grundrechte des Bewerbers beachten. Die Wahrnehmung der Religions- und Bekenntnisfreiheit könne deshalb für sich allein kein Ausschlussgrund sein. Das von der Beschwerdeführerin beabsichtigte religiös motivierte Tragen eines Kopftuchs auch im Unterricht würde aber gegen das vom Staat im Schulbereich zu beachtende Neutralitätsgebot und gegen die Grundrechte der Schüler und ihrer Eltern und damit gegen die der Beschwerdeführerin als Repräsentantin des Staates obliegende Dienstpflicht zur unparteiischen, dem Wohl der Allgemeinheit dienenden Amtsführung verstoßen.
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