Urteil vom 26.01.2021 - BVerwG 1 C 1.20

JurisdictionGermany
Judgment Date26 Enero 2021
Neutral CitationBVerwG 1 C 1.20
ECLIDE:BVerwG:2021:260121U1C1.20.0
Applied RulesVwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 und 5,BVFG § 6 Abs. 2, § 27 Abs. 1
Registration Date15 Abril 2021
Record Number260121U1C1.20.0
Subject MatterRecht der Vertriebenen einschließlich des Rechts der Vertriebenenzuwendung, der Sowjetzonenflüchtlinge und der politischen Häftlinge
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 26.01.2021 - 1 C 1.20

BVerwG 1 C 1.20

  • VG Köln - 20.02.2017 - AZ: VG 7 K 7186/16
  • OVG Münster - 27.11.2019 - AZ: OVG 11 A 836/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß und Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. November 2019 geändert.
  2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 20. Februar 2017 wird zurückgewiesen.
  3. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.
Gründe I

1 Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheides als Spätaussiedlerin nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG).

2 Die 1973 in Turkmenistan geborene Klägerin ist ukrainische Staatsangehörige. Im August 1992 beantragte ihre Großmutter unter Vorlage einer Vollmacht für die Klägerin deren Aufnahme nach § 27 Abs. 1 BVFG.

3 Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Antrag mit an die Großmutter zugestelltem Bescheid vom 11. Januar 1994 mit der Begründung ab, die Klägerin habe ihre deutsche Volkszugehörigkeit nicht glaubhaft dargelegt. Weder der Vater noch die Mutter seien deutsche Volkszugehörige, sodass es an einer entsprechenden Abstammung fehle. Nach den Antragsangaben verstehe sie lediglich die deutsche Sprache und spreche überhaupt kein Deutsch, sodass auch das Bestätigungsmerkmal der deutschen Sprache nicht erfüllt sei. Durch die Eintragung der russischen Nationalität in ihrem sowjetischen Inlandspass erfülle die Klägerin auch nicht das Erfordernis eines andauernden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum.

4 Ein weiterer Aufnahmeantrag vom 8. August 2001 wurde nicht bearbeitet, nachdem die Großmutter der Klägerin auf Aufforderungen des Bundesverwaltungsamtes vom September 2001 und Juni 2002 zur Vorlage von Vollmachten nicht reagiert hatte. Im April 2013 legte die Großmutter der Klägerin Widerspruch ein und beantragte im Dezember 2013 unter Berufung auf das 10. BVFG-Änderungsgesetz die nachträgliche Einbeziehung der Klägerin in ihren eigenen Aufnahmebescheid. Das Bundesverwaltungsamt teilte der Großmutter mit, dass einer nachträglichen Einbeziehung ihre bereits im Jahr 1990 erfolgte Einreise entgegenstehe und die Klägerin nur einen Antrag auf Wiederaufgreifen ihres eigenen abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens stellen könne.

5 Mit Bescheid vom 29. April 2016 lehnte das Bundesverwaltungsamt ein Wiederaufgreifen des Aufnahmeverfahrens der Klägerin ab und begründete dies vor allem damit, dass das 10. BVFG-Änderungsgesetz hinsichtlich des Abstammungserfordernisses nicht zu einer Änderung der Rechtslage zugunsten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geführt habe.

6 Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruchs machte die Klägerin geltend, ihre Mutter sei ausweislich einer am 15. Juli 2003 ausgestellten Geburtsurkunde sowie einer am 13. Mai 2003 ausgestellten Bescheinigung des ukrainischen Justizministeriums über die Eheschließung (der Mutter) deutscher Nationalität. Nach der Geburtsurkunde der Mutter seien auch die Großeltern deutscher Nationalität gewesen. Die Großmutter mütterlicherseits sei ausweislich einer Einbürgerungsurkunde von 1944 deutsche Staatsangehörige. Durch das 10. BVFG-Änderungsgesetz seien die Voraussetzungen für ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum dahingehend gelockert worden, dass dieses auch durch Sprachkenntnisse unter Vorlage eines B 1-Zertifikats nachgewiesen werden könne.

7 Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2016 wies das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch der Klägerin zurück. Der Ablehnungsbescheid vom 11. Januar 1994 sei in Bestandskraft erwachsen. Eventuelle Versäumnisse der Großmutter seien der Klägerin zuzurechnen. Durch das 10. BVFG-Änderungsgesetz habe sich die Rechtslage hinsichtlich des Abstammungserfordernisses nicht zugunsten der Klägerin geändert. Außerdem lägen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 VwVfG nicht vor, da nicht ersichtlich sei, warum sie ohne grobes Verschulden an einer Geltendmachung im früheren Verfahren gehindert gewesen sei. Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG komme nicht in Betracht. Es seien keine Umstände vorgetragen, die dafür sprächen, dass die Aufrechterhaltung des ablehnenden Bescheides zu schlechthin unerträglichen Zuständen führen würde oder gegen Treu und Glauben verstoße. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des bestandskräftigen Bescheides sei ebenfalls nicht erkennbar.

8 Mit der am 17. August 2016 erhobenen Klage führte die Klägerin ergänzend aus, sie habe ihre Großmutter zu keinem Zeitpunkt bevollmächtigt und nicht gewusst, dass die Großmutter für sie einen Aufnahmeantrag gestellt habe und dieser abgelehnt worden sei.

9 Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 20. Februar 2017 abgewiesen.

10 Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ergänzend vorgetragen, sie habe von der ersten Antragsablehnung erst anlässlich der Ablehnung des 2001 gestellten Antrags erfahren. Da sie von dem 1992 eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis gehabt habe, hätte das 2001 eingeleitete Verfahren als Erstverfahren durchgeführt werden müssen. Die vollmachtlose Durchführung des Erstverfahrens rechtfertige jedenfalls eine Wiederaufnahme nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG.

11 Mit Urteil vom 27. November 2019 hat das Oberverwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens einen Aufnahmebescheid zu erteilen. Das Erstverfahren sei bestandskräftig abgeschlossen. Die Klägerin habe die Stellung eines Aufnahmeantrags und die Entgegennahme des ablehnenden Bescheides durch ihre Großmutter - zumindest konkludent - rückwirkend genehmigt. Ihr Wiederaufgreifensantrag richte sich gegen alle im Bescheid von 1994 aufgeführten Ablehnungsgründe. Hinsichtlich des Fehlens des Bestätigungsmerkmals der deutschen Sprache und des Fehlens eines bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete andauernden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum habe die Klägerin mit dem 10. BVFG-Änderungsgesetz eine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geltend gemacht, die auch vorliege. Es könne offenbleiben, ob der im Erstbescheid genannte Grund der fehlenden deutschen Abstammung schon mangels hinreichender Bestimmtheit die Ablehnung nicht selbstständig trage und ob bezüglich eines derart unbestimmt formulierten Ablehnungsgrundes ein Wiederaufgreifensgrund geltend gemacht werden müsse. Jedenfalls sei durch die Vorlage der am 15. Juli 2003 ausgestellten Geburtsurkunde und der am 13. Mai 2003 ausgestellten Bescheinigung des Justizministeriums der Ukraine zur Eheschließung ihrer Mutter, in denen diese mit deutscher Nationalität eingetragen sei, belegt, dass die Mutter spätestens 2003 ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgelegt habe, sodass unter Berücksichtigung dieser geänderten Sach- und Rechtslage das Kriterium der deutschen Abstammung erfüllt sei. § 51 Abs. 2 VwVfG stehe dem Antrag nicht entgegen, weil die Klägerin die 2013 eingetretene Rechtsänderung und die erst in 2003 ausgestellten Urkunden nicht in früheren Verfahren habe geltend machen bzw. vorlegen können. Die Klägerin erfülle auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufnahmebescheides nach §§ 26 und 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG in der zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung maßgeblichen Fassung. Sie könne ihre deutsche Abstammung von ihrer Großmutter mütterlicherseits ableiten. Diese sei ausweislich der vorgelegten Einbürgerungsurkunde des ehemaligen Deutschen Reiches (schon im Jahr 1944) deutsche Staatsangehörige gewesen. Außerdem sei sie im Jahr 1990 als Vertriebene anerkannt worden und damit deutsche Volkszugehörige. Da die Klägerin ausreichende deutsche Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen - GER - nachgewiesen habe, habe sie ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 BVFG auf andere Weise abgelegt. In der Angabe der russischen Nationalität in ihrem ersten...

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