Urteil vom 26. Oktober 2022 - 2 BvE 3/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:es20221026.2bve000315 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2022 - 2 BvE 3/15 -, Rn. 1-142, |
Date | 26 Octubre 2022 |
Judgement Number | 2 BvE 3/15 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2022
- 2 BvE 3/15 -
- 2 BvE 7/15 -
EUNAVFOR MED
- Die Verpflichtung der Bundesregierung zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung des Bundestages gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG gilt auch für Maßnahmen in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)
- Adressat der Unterrichtung ist der Bundestag als Ganzer. Es ist in erster Linie Sache des Bundestages selbst, dafür Sorge zu tragen, dass die ihm übermittelten Informationen einer effektiven parlamentarischen Willensbildung zugeführt werden
- Eine Geheimschutzregelungen unterliegende Information des Bundestages wird den Anforderungen von Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG grundsätzlich nicht gerecht, weil die Information des Parlaments zugleich dem im Demokratieprinzip verankerten Grundsatz parlamentarischer Öffentlichkeit dient
- Grenzen der Unterrichtungspflicht der Bundesregierung nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG können sich aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung oder dem Staatswohl ergeben. Geheimhaltungserfordernisse stehen der Unterrichtungspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag grundsätzlich nicht entgegen. Will die Bundesregierung ihre Informationspflicht wegen der genannten Grenzen ganz oder teilweise nicht erfüllen, muss sie sich gegenüber dem Deutschen Bundestag darauf berufen und die Gründe hierfür darlegen.
Verkündet
am 26. Oktober 2022
Fischböck
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 3/15 -
- 2 BvE 7/15 -
I. |
über den Antrag festzustellen, |
|
dass die Antragsgegnerin den Deutschen Bundestag in seinem Unterrichtungs- und Mitwirkungsrecht aus Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes verletzt hat, indem sie es unterlassen hat, ihm den ihr am 30. April 2015 vorliegenden Entwurf für das Krisenmanagementkonzept für eine GSVP-Operation zur Zerschlagung des Geschäftsmodells der Schleuser im südlichen zentralen Mittelmeer vor der Beschlussfassung des Rates der Europäischen Union am 18. Mai 2015 über die Militäroperation EUNAVFOR MED zuzuleiten, |
Antragstellerin: |
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN |
- Bevollmächtigte:
-
1. Prof. Dr. Andreas von Arnauld,
Danziger Straße 40, 20099 Hamburg,
-
2. Prof. Dr. Ulrich Hufeld,
Stratenbarg 40 a, 22393 Hamburg -
Antragsgegnerin: |
Bundesregierung, |
- Bevollmächtigter:
-
Prof. Dr. Heiko Sauer,
Burbacher Straße 211d, 53129 Bonn -
- 2 BvE 3/15 -, |
||
II. über den Antrag festzustellen, |
||
1. dass die Antragsgegnerin den Deutschen Bundestag in seinem Unterrichtungs- und Mitwirkungsrecht aus Art. 23 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt hat, indem sie es unterlassen hat, ihm den Entwurf für das Krisenmanagementkonzept für eine GSVP-Operation zur Zerschlagung des Geschäftsmodells der Schleuser im südlichen zentralen Mittelmeer vor der Beschlussfassung des Rates der Europäischen Union am 18. Mai 2015 über die Militäroperation EUNAVFOR MED zuzuleiten, |
||
2. dass die Antragsgegnerin den Deutschen Bundestag in seinem Unterrichtungs- und Mitwirkungsrecht aus Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes verletzt hat und ihn weiterhin verletzt, indem sie es bis einschließlich zum 16. Dezember 2015 unterlassen hat, ihm den Entwurf für das Krisenmanagementkonzept für eine GSVP-Operation zur Zerschlagung des Geschäftsmodells der Schleuser im südlichen zentralen Mittelmeer vor der Beschlussfassung des Rates der Europäischen Union am 18. Mai 2015 über die Militäroperation EUNAVFOR MED so uneingeschränkt zugänglich zu machen, dass alle Mitglieder des Deutschen Bundestags Einsicht nehmen können, |
||
3. dass die Antragsgegnerin den Deutschen Bundestag in seinem Unterrichtungs- und Mitwirkungsrecht aus Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes verletzt hat und ihn weiterhin verletzt, indem sie es bis einschließlich zum 16. Dezember 2015 unterlassen hat, ihm entweder die europapolitisch bedeutsamen Inhalte des Briefes des türkischen Ministerpräsidenten Davutoǧlu vom 23. September 2015 an die deutsche Bundeskanzlerin vor oder nach dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU mit Repräsentanten der Türkei am 29. November 2015 zugänglich zu machen, oder aber klarzustellen, dass der Brief nichts europapolitisch Bedeutsames enthalte, |
Antragstellerin: |
Fraktion DIE LINKE |
- Bevollmächtigte:
- 1. (…),
- 2. (…) -
Antragsgegnerin: |
Bundesregierung, |
- Bevollmächtigter:
-
Prof. Dr. Heiko Sauer,
Burbacher Straße 211d, 53129 Bonn -
- 2 BvE 7/15 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Langenfeld,
Wallrabenstein
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2022 durch
für Recht erkannt:
- Die Verfahren 2 BvE 3/15 und 2 BvE 7/15 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
- Die Antragsgegnerin hat den Deutschen Bundestag in seinem Recht aus Artikel 23 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes dadurch verletzt, dass sie es unterlassen hat,
- ihm den ihr am 30. April 2015 vorliegenden Entwurf eines Krisenmanagementkonzeptes für eine Operation im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Zerschlagung des Geschäftsmodells der Schleuser im südlichen zentralen Mittelmeer zum frühestmöglichen Zeitpunkt vor der Beschlussfassung des Rates der Europäischen Union am 18. Mai 2015 über die Militäroperation EUNAVFOR MED zuzuleiten und
- nachvollziehbar darzulegen, dass das Schreiben des türkischen Ministerpräsidenten Davutoǧlu vom 23. September 2015 an die Bundeskanzlerin keine Angelegenheit der Europäischen Union im Sinne von Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes betrifft oder der Verzicht auf die Mitteilung seines Inhalts aus verfassungsrechtlichen Gründen angezeigt war.
- Die Anträge zu 1. und zu 2. im Verfahren 2 BvE 7/15 werden verworfen.
- Der Beitritt der Antragstellerin zu II. zum Verfahren 2 BvE 3/15 ist unzulässig.
A.
Die Antragstellerinnen zu I. und II. machen im Wege des Organstreits die Verletzung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG durch die Bundesregierung geltend, weil diese es unterlassen habe, dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Krisenmanagementkonzepts (Crisis Management Concept – CMC), das in Vorbereitung einer Operation der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) gegen Schleuser im Mittelmeerraum erstellt worden war, vollständig und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu überlassen. Die Antragstellerin zu II. wendet sich darüber hinaus dagegen, dass dem Deutschen Bundestag ein an die Bundeskanzlerin gerichtetes Schreiben des türkischen Ministerpräsidenten weder zugänglich gemacht noch dargelegt wurde, dass dieses keine Angelegenheiten der Europäischen Union betrifft.
I.
1. Am 23. April 2015 trat der Europäische Rat zu einer außerordentlichen Tagung zusammen und kündigte in einer Erklärung vom selben Tag an, die Präsenz der Europäischen Union auf See zu verstärken. Zugleich verpflichtete er die Organe der Europäischen Union auf ein Vorgehen gegen Schlepper im Einklang mit dem Völkerrecht. Hierzu beschloss er, durch ein rasches Vorgehen der nationalen Behörden in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Polizeiamt (EUROPOL), der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (FRONTEX), dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) und der Agentur der Europäischen Union für justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (EUROJUST) sowie durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei der Erkenntnisgewinnung und im polizeilichen Bereich Schleppernetzwerke zu zerschlagen, die Täter vor Gericht zu stellen und ihre Vermögenswerte zu beschlagnahmen. Ferner entschied er, systematische Anstrengungen zu unternehmen, um Schlepperschiffe auszumachen, zu beschlagnahmen und zu zerstören. Die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (nachfolgend: Hohe Vertreterin) wurde ersucht, zu diesem Zweck unverzüglich mit den Vorbereitungen für eine eventuelle GSVP-Operation zu beginnen (vgl. Europäischer Rat, Erklärung zur außerordentlichen Tagung am 23. April 2015, EUCO 18/15).
Die Hohe Vertreterin erarbeitete daraufhin ein Krisenmanagementkonzept. Dessen Entwurf lag der Antragsgegnerin nach unwidersprochenem Vortrag der Antragstellerinnen am 30. April 2015 vor. Am 6. Mai 2015 befasste...
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Beschluss vom 20.04.2023 - BVerwG 2 WRB 1.23
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