Urteil vom 27.09.2021 - BVerwG 8 C 31.20

CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Judgment Date27 Septiembre 2021
ECLIDE:BVerwG:2021:270921U8C31.20.0
Neutral CitationBVerwG 8 C 31.20
CitationBVerwG, Urteil vom 27.09.2021 - 8 C 31.20 -
Applied RulesGG Art. 5 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1, Art. 103 Abs. 1,VwGO § 43 Abs. 1, § 108 Abs. 1 und 2,GO NRW § 48 Abs. 2 Satz 1, § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2
Registration Date14 Diciembre 2021
Subject MatterKommunalrecht, einschließlich des Kommunalwahlrechts
Record Number270921U8C31.20.0

BVerwG 8 C 31.20

  • VG Gelsenkirchen - 12.07.2018 - AZ: VG 15 K 5404/15
  • OVG Münster - 07.10.2020 - AZ: OVG 15 A 2750/18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2021
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller
für Recht erkannt:

  1. Die Revisionen werden zurückgewiesen
  2. Die Beteiligten tragen die Kosten des Revisionsverfahrens jeweils zur Hälfte
Gründe I

1 Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die im öffentlichen Teil der Ratssitzung des Beklagten am 26. November 2015 gefassten Beschlüsse unwirksam sind.

2 Der Bürgermeister der Stadt G. berief eine Ratssitzung für den 26. November 2015 ein. Im Mittelpunkt der Tagesordnung stand der mögliche Ausbau der B 224 zur Autobahn A 52. Wegen des erwarteten großen Zuschauerinteresses vergab die Verwaltung für die Ratssitzung Eintrittskarten. Von den im Ratssaal verfügbaren 73 Plätzen wurden acht der Presse, neun verschiedenen Funktionsträgern und sieben dem Bürgermeister zur Verfügung gestellt. Die im Rat vertretenen Fraktionen erhielten insgesamt 25 Karten, die ihnen im Verhältnis zu ihrem Stimmenanteil bei der Kommunalwahl 2014 zugeteilt wurden.

3 Am 17. Dezember 2015 hat die Klägerin Klage erhoben und geltend gemacht, dieses Vergabesystem verletze den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit und führe zur Unwirksamkeit der in der Ratssitzung gefassten Beschlüsse. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, die Beschlüsse des Beklagten aus dem öffentlichen Teil der Ratssitzung seien unwirksam. Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Urteil teilweise geändert und festgestellt, dass der Beklagte die Organrechte der Klägerin verletzt habe, indem er mit der Durchführung der Ratssitzung gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit verstoßen habe; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

4 Der Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit verlange die chancengleiche Zugangsmöglichkeit für jedermann ohne Ansehen der Person im Rahmen verfügbarer Kapazitäten. Bei der Umsetzung dieses Grundsatzes stehe dem Vorsitzenden des Rates zwar ein durch das Willkürverbot begrenzter Ermessensspielraum zu. Doch sei eine bevorzugte Vergabe von Zuhörerplätzen nur zulässig, soweit sie aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sei und sofern daneben noch eine relevante Anzahl an allgemein zugänglichen Plätzen verbleibe. Nach diesem Maßstab werde die Platzvergabe den Anforderungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht gerecht. Der Bürgermeister habe seinen Ermessensspielraum überschritten, weil er den Ratsfraktionen 25 Eintrittskarten ohne jegliche Begrenzung der Weitergabe an bestimmte Personengruppen überlassen habe. Zudem sei für die Reservierung von Plätzen für drei Einzelpersonen sowie den Personalrat kein sachlicher Grund ersichtlich. Die bevorzugte Platzvergabe an vier Mitglieder einer Bürgerinitiative erweise sich im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 GG ebenfalls als ermessensfehlerhaft, weil die gegenteilige Ziele verfolgende Bürgerinitiative keine Plätze erhalten habe.

5 Der Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz führe allerdings nicht zur Unwirksamkeit der in der Ratssitzung gefassten Beschlüsse. Verstöße gegen Verfahrensvorschriften führten nicht generell zur Nichtigkeit der betreffenden Hoheitsakte. Für die Frage der Rechtsfolgen eines Verfahrensverstoßes komme der Schwere der jeweiligen Verletzung ausschlaggebende Bedeutung zu. Bei einer fehlerhaften Platzvergabe werde den grundlegenden demokratischen Grundsätzen jedenfalls dann noch genügt, wenn eine relevante Anzahl an für jedermann chancengleich zugänglichen Plätzen vorhanden sei und die Zuhörerschaft auch insgesamt nicht das Gepräge eines von den politischen Akteuren zielgerichtet zusammengestellten Publikums habe. Diese aufeinander bezogenen Kriterien seien vorliegend noch erfüllt. Die Anzahl von 24 allgemein zugänglichen Plätzen, die insgesamt knapp ein Drittel der Publikumsplätze ausgemacht hätten, sei als relevanter Anteil anzusehen, weil allenfalls ein kleiner Anteil der Karten gezielt an Befürworter des Autobahnausbaus vergeben worden sei. Die Vergabe der den Fraktionen überlassenen Karten sei durch so viele verschiedene Akteure erfolgt, dass eine gezielte Lenkung des Publikums fernliege.

6 Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, das Berufungsurteil gehe zwar zutreffend von einer Verletzung des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit aus. Seine Annahme, dieser Verstoß führe nicht zur Unwirksamkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse, sei jedoch mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar. Wegen der allgemeinen staatsrechtlichen Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes für parlamentarische Gremien, zu denen auch die kommunalen Vertretungskörperschaften gehörten, müsse dessen Verletzung grundsätzlich zur Unwirksamkeit der gefassten Beschlüsse führen. Zudem verstoße die Feststellung des Berufungsurteils, die fehlerhafte Vergabe der Zuhörerplätze habe nicht zu einer gelenkten Öffentlichkeit geführt, gegen allgemeine Erfahrungssätze.

7 Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Oktober 2020 teilweise zu ändern und festzustellen, dass die Beschlüsse des Beklagten im öffentlichen Teil der Sitzung vom 26. November...

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