Beschluss vom 03.08.2021 - BVerwG 9 B 48.20

Judgment Date03 Agosto 2021
Neutral CitationBVerwG 9 B 48.20
ECLIDE:BVerwG:2021:030821B9B48.20.0
CitationBVerwG, Beschluss vom 03.08.2021 - 9 B 48.20 -
Record Number030821B9B48.20.0
Registration Date27 Septiembre 2021
Applied RulesVwGO § 5 Abs. 3 Satz 2, § 9 Abs. 3, § 42 Abs. 2, § 54 Abs. 1, §§ 99, 100, § 138 Nr. 1,FlurbG § 8 Abs. 2, § 139 Abs. 1 Satz 2,LwAnpG § 58 Abs. 1, § 63 Abs. 2,ZPO § 557 Abs. 2,GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 1
Subject MatterFlurbereinigungsrecht und Recht des ländlichen Grundstücksverkehrs
CourtDas Bundesverwaltungsgericht

BVerwG 9 B 48.20

  • OVG Bautzen - 04.09.2020 - AZ: OVG 7 C 6/19.F

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. August 2021
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Dieterich und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Schübel-Pfister
beschlossen:

  1. Das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 4. September 2020 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen
  2. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten
  3. Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 5 000 € festgesetzt
Gründe I

1 Die Kläger sind Teilnehmer eines Bodenordnungsverfahrens (Anordnungsbeschluss vom 11. Oktober 2007). Sie wenden sich gegen den auf § 63 Abs. 2 LwAnpG i.V.m. § 8 Abs. 2 FlurbG gestützten Beschluss vom 7. August 2018 zur 1. Änderung des Neuordnungsgebiets, mit dem das bisherige Verfahrensgebiet durch Einbeziehung weiterer - nicht an das Verfahrensgebiet angrenzender - Flächen von vormals ca. 10 ha auf insgesamt etwa 20 ha verdoppelt wird.

2 Im Widerspruchsverfahren hatten die Kläger Einsicht in sämtliche Verwaltungsvorgänge zur Gebietserweiterung begehrt; dies wurde im Widerspruchsbescheid mit der Begründung abgelehnt, das Akteneinsichtsrecht sei auf die den Teilnehmer betreffenden Unterlagen und die Kenntnis derjenigen Akten beschränkt, die zur Geltendmachung oder Verteidigung seiner rechtlichen Interessen erforderlich seien. Danach sei hier den Klägern nur Einsicht in die ihren eigenen Besitzstand betreffenden Unterlagen zu gewähren; ergänzend wurde ihnen eine teilgeschwärzte, dem Änderungsbeschluss zugrunde liegende Abwägungsentscheidung ausgehändigt.

3 Im Gerichtsverfahren begehrten die Kläger erneut Akteneinsicht, um ihre Klage näher begründen zu können. Der Beklagte legte dem Gericht im Juni 2019 die vollständigen Akten zur angeordneten Gebietserweiterung - sowie offenbar zahlreiche weitere Akten - vor, wies aber zugleich darauf hin, dass "aufgrund der Nichtbetroffenheit des Klägers in Bezug auf die Gebietsänderung" kein Erfordernis der Akteneinsichtnahme in andere als die bereits vorgelegten Akten bestehe. Nachdem die Kläger konkrete Termine zur Akteneinsicht für den Juni 2020 vorgeschlagen hatten, bat der Beklagte Anfang Juni 2020 um zeitnahe Rücksendung des Großteils der Akten; am 9. Juni 2020 wurden einem Vertreter des Beklagten dann ausweislich des Empfangsbekenntnisses 30 Heftungen Behördenakten auf der Geschäftsstelle ausgehändigt, darunter auch Akten zur Anordnung der Gebietserweiterung. Erst im Nachgang erläuterte der zuständige Berichterstatter des Flurbereinigungsgerichts den Klägern das Vorgehen (vgl. Verfügung vom 2. Juli 2020). Er schloss sich in der Sache der behördlichen Auffassung an, die Akten würden für die gerichtliche Entscheidung nicht benötigt. Zugleich wurde den Klägern eine Frist nach § 87b Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Angabe von Tatsachen gesetzt und ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO hingewiesen.

4 Im Zusammenhang mit den vorbeschriebenen Vorgängen lehnten die Kläger den Berichterstatter und seine ebenfalls tätig gewordene Stellvertreterin wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Hierüber entschied das Flurbereinigungsgericht jeweils in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter; die jeweils abgelehnten Richter wirkten ebenfalls nicht mit. Am Tag der mündlichen Verhandlung lehnten die Kläger, nachdem sie Kenntnis von den vorgenannten Beschlüssen erlangt hatten, die beiden Berufsrichter erneut ab, nunmehr mit der Begründung, dass über ihre Befangenheitsanträge entgegen der gesetzlichen Regelung in § 139 FlurbG ohne die ehrenamtlichen Richter entschieden worden sei. Über dieses Befangenheitsgesuch entschied das Flurbereinigungsgericht in seiner vollen Besetzung, also einschließlich der drei ehrenamtlichen Richter, aber unter Mitwirkung der beiden abgelehnten Richter. Es wies das Gesuch als rechtsmissbräuchlich zurück und führte anschließend die mündliche Verhandlung in der genannten Besetzung durch. Die Klage gegen den Erweiterungsbeschluss wurde als unzulässig abgewiesen; den Klägern fehle die Klagebefugnis. Die Revision wurde nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger.

II

5 Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zwar führt sie nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (A); es liegen jedoch mehrere von der Beschwerde geltend gemachte Verfahrensmängel vor (B), auf denen das Urteil beruht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dies führt zu seiner Aufhebung und zur Zurückverweisung der Rechtssache an die Vorinstanz nach § 133 Abs. 6 VwGO (C).

6 A. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

7 1. Die Fragen,
ob bei einer Erweiterung des Bodenordnungsgebiets, die über eine geringfügige Änderung im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 FlurbG hinausgeht, die verfahrensrechtlichen Anforderungen nach § 8 Abs. 2 FlurbG gemäß § 63 Abs. 2 LwAnpG auch im Bodenordnungsverfahren gelten,
und ob die Klagebefugnis eines Beteiligten zu verneinen ist, wenn durch die Erweiterung des Verfahrensgebiets in einem Bodenordnungsverfahren weitere Beteiligte hinzutreten,
lassen sich auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens - wenngleich entgegen der dem Urteil des Flurbereinigungsgerichts zugrunde gelegten Auffassung - beantworten:

8 a) Bei der Erweiterung des Verfahrensgebiets von ursprünglich rund 10 ha auf rund 20 ha handelt es sich, wovon auch der angefochtene Änderungsbeschluss ausgeht, um eine erhebliche Gebietsänderung im Sinne von § 8 Abs. 2 FlurbG, die über die im Wege einer bloßen Ermessensentscheidung der Behörde zulässige geringfügige Änderung des Verfahrensgebiets (§ 8 Abs. 1 FlurbG) hinausgeht. Für die Abgrenzung zwischen geringfügigen und erheblichen Änderungen im Sinne des § 8 FlurbG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 16. April 1971 - 4 C 36.68 - Buchholz 424.01 § 8 FlurbG Nr. 3; Beschluss vom 23. September 2004 - 10 B 8.04 - juris Rn. 5) in erster Linie, aber nicht allein, auf die Flächenrelation abzustellen; schon bei Gebietsvergrößerungen von mehr als 10 - 20 % des ursprünglichen Gebiets liegt regelmäßig keine geringfügige Änderung mehr vor (vgl. Wingerter/Mayr, FlurbG, 10. Aufl. 2018, § 8 Rn. 4 m.w.N.). Diese Maßstäbe gelten über § 63 Abs. 2 LwAnpG auch im Bodenordnungsverfahren (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 4. Juni 2009 - 70 A 9.08 - juris Rn. 17 und vom 22. Juni 2017 - 70 A 2.15 - juris Rn. 46; Wingerter/Mayr, FlurbG, 10. Aufl. 2018, § 8 Rn. 11). Danach müssen hier gemäß § 8 Abs. 2 FlurbG die Anforderungen nach den §§ 4 - 6 FlurbG für eine Anordnung der Bodenordnung (erneut) erfüllt werden.

9 b) Hieraus folgt, dass im Falle der erheblichen Gebietserweiterung nach § 8 Abs. 2 FlurbG die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) eines Teilnehmers des bisherigen Bodenordnungsverfahrens zu bejahen ist. Die anzuwendenden Regelungen der §§ 4 - 6 FlurbG über die Anordnung des Verfahrens dienen ersichtlich auch dem Interesse der Teilnehmer des bisherigen Bodenordnungsverfahrens. Diese können geltend machen, die sachlichen Voraussetzungen für die Erweiterung des Verfahrensgebiets lägen nicht vor, weshalb sie in ihren Rechten verletzt seien (vgl. Wingerter/Mayr, FlurbG, 10. Aufl. 2018, § 4 Rn. 13, 15 m.w.N.). Der vom Flurbereinigungsgericht zur Begründung der gegenteiligen Auffassung herangezogene Umstand, dass die Kläger nach § 58 Abs. 1 LwAnpG (lediglich) Anspruch auf wertgleiche Abfindung in Land, aber grundsätzlich keinen Anspruch darauf haben, mit bestimmten Grundstücken abgefunden zu werden, ist zwar für sich genommen richtig. Er ist allerdings für die hier aufgeworfene Frage der Klagebefugnis unerheblich. Beim Bodenordnungsverfahren handelt es sich - wie beim Flurbereinigungsverfahren - um ein gestuftes Verfahren mit den aufeinander abgestimmten Teilentscheidungen des Anordnungsbeschlusses, der Feststellung der Ergebnisse der Wertermittlung und des Bodenordnungsplans (BVerwG, Urteile vom 10. Dezember 2003 - 9 C 5.03 - Buchholz 424.02 § 64 LwAnpG Nr. 10 S. 13 und vom 19. Januar 2011 - 9 C 3.10 - Buchholz 424.02 § 64 LwAnpG Nr. 13 Rn. 27). Rechtsschutz steht den Betroffenen auf jeder der Stufen zu und nicht nur einmal am Ende des Verfahrens gegen den Bodenordnungsplan. Wenn - wie hier - für eine Erweiterung des Bodenordnungsgebiets die Vorschriften über die erstmalige Anordnung des Bodenverfahrens anzuwenden sind, ist der Rechtsschutz entsprechend ausgestaltet.

10 Das Flurbereinigungsgericht hat in vollem Umfang nachzuprüfen, ob die Voraussetzungen für die Bodenordnung und das Interesse der Beteiligten vorliegen. Ein Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum ist der Behörde insoweit nicht eingeräumt (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. März...

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