Beschluss vom 03.12.2020 - BVerwG 6 A 3.20

JurisdictionGermany
Judgment Date03 Diciembre 2020
Neutral CitationBVerwG 6 A 3.20
ECLIDE:BVerwG:2020:031220B6A3.20.0
CitationBVerwG, Beschluss vom 03.12.2020 - 6 A 3.20
Registration Date06 Enero 2021
Subject MatterRundfunkrecht einschl. Recht der Rundfunkanstalten, Filmrecht einschl. Filmförderungsrecht, Recht der neuen Medien und Presserecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number031220B6A3.20.0

BVerwG 6 A 3.20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. Dezember 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Hahn und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Steiner
beschlossen:

  1. Dem Großen Senat wird folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
  2. Rechtfertigen Gründe des Staatswohls, den Schutz der Identität nachrichtendienstlicher Informanten bei vor Jahrzehnten abgeschlossenen Vorgängen regelhaft auf einen Zeitraum von etwa 30 Jahren über deren Tod hinaus zu erstrecken, wenn solche Personen nicht zum Kreis von NS-Tätern gehören oder selbst keine schweren, insbesondere terroristischen Straftaten begangen haben?
Gründe I

1 Die Klägerin, Herausgeberin des Nachrichtenmagazins "DER SPIEGEL", begehrt unter Berufung auf den presserechtlichen Auskunftsanspruch gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG u.a. Auskunft zu "sämtlichen konspirativen Linien vor, während und nach der Spiegel-Affäre" im Jahr 1962.

2 Der Bundesnachrichtendienst teilte der Klägerin mit Schreiben vom 14. Juli 2014 mit, dass es sich bei "konspirativen Linien" um Personen handele, die für den Bundesnachrichtendienst nachrichtendienstlich tätig gewesen seien und zugleich in einer Vertragsbeziehung zur SPIEGEL-Redaktion gestanden hätten. Zudem müssten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese Personen entweder dem Bundesnachrichtendienst Informationen über den SPIEGEL übermittelt hätten oder die Behörde diese Personen genutzt habe, um auf die Berichterstattung des SPIEGEL im nachrichtendienstlichen Sinne ohne Billigung der Redaktion Einfluss zu nehmen. Auf der Grundlage dieser Definition habe der Bundesnachrichtendienst Kontakt zu zwei Personen gehabt. Deren namentlicher Benennung stünden vorrangige Belange des Staatswohls in Gestalt des Informantenschutzes, des Schutzes des allgemeinen sowie des postmortalen Persönlichkeitsrechts entgegen.

3 Mit Schreiben vom 14. April 2015 präzisierte die Klägerin ihren Antrag dahingehend, dass folgende Auskünfte zu erteilen seien: 1.) Wie viele Pressesonderverbindungen des SPIEGEL-Verlages für den BND gab es vor, während und nach der SPIEGEL-Affäre und welche Personen waren das konkret? 2.) Welche Informationen wurden zwischen den einzelnen Pressesonderverbindungen und dem BND ausgetauscht? Dies gilt für beide Richtungen. 3.) Wie bewertete der BND die Informationen, die er von den einzelnen Pressesonderverbindungen des SPIEGEL erhielt? 4.) Welche Auskünfte begehrte der BND von den Pressesonderverbindungen im SPIEGEL? Also: Was wollte er von Ihnen wissen? 5.) Wurden die Pressesonderverbindungen vom Spiegel honoriert?

4 Der Bundesnachrichtendienst entgegnete, die in der Behörde tatsächlich vorhandenen Informationen seien nicht geeignet, die Fragen vollständig zu beantworten. Auf die Klage hat der Senat der Beklagten mit aufgrund mündlicher Verhandlung ergangenem Beschluss vom 17. November 2016 - neugefasst durch Beschluss vom 12. September 2017 - aufgegeben, im Einzelnen bezeichnete Unterlagen vollständig und ungeschwärzt vorzulegen.

5 Mit Sperrerklärung vom 16. Mai 2017 (Ergänzungen vom 1. Juni 2017, 17. April 2019 und 8. Mai 2019) hat die Beklagte nur Teile der angeforderten Dokumente vorgelegt, die vollständige und ungeschwärzte Vorlage der angeforderten Dokumente aber unter Berufung auf das Wohl des Bundes und die ihrem Wesen nach bestehende Geheimhaltungsbedürftigkeit verweigert. Daraufhin hat die Klägerin nach § 99 Abs. 2 VwGO beantragt festzustellen, dass die Verweigerung der Vorlage der Unterlagen in vollständiger und ungeschwärzter Form durch die Sperrerklärung rechtswidrig sei.

6 Der Fachsenat nach § 189 VwGO (Fachsenat) hat mit Beschluss vom 3. Januar 2020 - 20 F 13.17 - festgestellt, dass die Sperrerklärung vom 16. Mai 2017 in der Fassung der Änderungen vom 1. Juni 2017 und 17. April 2019 hinsichtlich im Einzelnen näher bezeichneter Unterlagen rechtswidrig ist; im Übrigen hat er den Antrag abgelehnt. In den Gründen des Beschlusses hat der Fachsenat zum (mittelbaren) Schutz (mutmaßlich) verstorbener Informanten ausgeführt, dass das Wohl des Bundes im Sinne von § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO nach dem Tod eines Informanten eine weitere Geheimhaltung seiner Daten rechtfertigen könne, wenn deren Bekanntgabe die künftige effektive Erfüllung der Aufgaben einer Sicherheitsbehörde des Bundes erschweren würde. Denn das für die Gewinnung von Informanten notwendige Vertrauen in die Verlässlichkeit von nachrichtendienstlichen Vertraulichkeitszusagen rechtfertige grundsätzlich den Schutz von Informanten über deren Tod hinaus und begründe damit einen Weigerungsgrund im öffentlichen Interesse. Liege der (mutmaßliche) Tod eines Informanten länger als etwa 30 Jahre zurück, bedürfe die Notwendigkeit einer weiteren Geheimhaltung bei weit zurückliegenden, abgeschlossenen Vorgängen aber zusätzlicher Erläuterungen.

7 Allerdings sei durch die Bekanntgabe der Identität eines verstorbenen Informanten nicht stets eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Nachrichtendienstes ernsthaft zu befürchten. Bei der Einschätzung, ob das Bekanntwerden dem Wohl des Bundes im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO Nachteile bereiten würde, sei den jeweiligen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Bei der Interessenabwägung sei der Zeitlauf ein bedeutsamer - wenn auch nicht allein ausschlaggebender - Faktor. Gehe es - wie hier - um vor Jahrzehnten geschlossene Akten und sei der Informant bereits (mutmaßlich) verstorben, komme es zum einen darauf an, ob sich ein durchschnittlicher Informant bei seiner Entscheidung für eine Zusammenarbeit mit einem Nachrichtendienst durch eine Information der Öffentlichkeit über die frühere Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten mit einzelnen Personen beeinflussen lasse. Es sei nicht plausibel, dass die Veröffentlichung der Informantentätigkeit etwa von NS-Tätern oder Personen, die selbst schwere, insbesondere terroristische Straftaten begangen hätten, auf diese Entscheidungen Einfluss haben könne.

8 Zum anderen sei das Erfordernis der Verlässlichkeit von Vertraulichkeitszusagen über den Tod hinaus auch im Hinblick auf den Zeitablauf seit dem Tod des Informanten differenziert zu prüfen. Es könne nämlich nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die Bereitschaft aktueller oder potenzieller Informanten zur Zusammenarbeit mit den Behörden entscheidend davon abhänge, ob die Vertraulichkeit auch Jahrzehnte nach ihrem Ableben noch gesichert erscheine. Liege der Tod der Quelle mehrere Jahrzehnte zurück, müsse die Sperrerklärung erkennen lassen, dass die Behörde differenziert nach dem Umfeld, in dem der konkrete Informant tätig gewesen sei, geprüft habe, ob Auswirkungen auf die Bereitschaft anderer Personen dieses Umfeldes zur Aufnahme oder Fortführung einer Informantentätigkeit nicht nur theoretisch möglich, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ernsthaft zu befürchten seien. Es sei zwar nachvollziehbar, dass aus diesen Gründen auf Vertraulichkeit für einen etwa eine Generation, also ca. 30 Jahre, umfassenden Zeitraum nach dem Tod Wert gelegt werde. Denn in diesem Zeitraum sei die Erinnerung an einen Verstorbenen typischerweise in dessen Umfeld noch präsent und lebendig. Dass für die Gewinnung und Aufrechterhaltung aktueller nachrichtendienstlicher Verbindungen eine längere posthume Vertraulichkeit erforderlich sei, bedürfe dagegen zusätzlicher Erläuterungen. Lebe jedoch niemand mehr, der noch eine aus dem unmittelbaren Kontakt gewonnene persönliche Erinnerung an den oder emotionale Nähe zu dem Informanten habe, sei bereits der reine Zeitablauf grundsätzlich ein ausreichender Grund für das Entfallen von Geheimhaltungsgründen. Denn es sei nicht nachvollziehbar, dass die Verlässlichkeit einer Vertraulichkeitszusage auch noch nach so großem Zeitablauf potenzielle Informanten in ihrer Entscheidung für diese Tätigkeit beeinflussen könne.

9 Der 6. Senat hat mit Beschluss vom 13. Mai 2020 beim Fachsenat angefragt, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält. Mit Beschluss vom 4. November 2020 - 20 AV 2.20 - hat der Fachsenat verlautbart, an seiner Rechtsauffassung festzuhalten, dass die Verpflichtung zur alsbaldigen Offenlegung der Namen verstorbener Informanten die Funktionsfähigkeit der Geheimdienste des Bundes gefährden und damit dem Wohl des Bundes im Sinne von § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO Nachteile bereiten würde. Da die Geheimdienste des Bundes Vertraulichkeitszusagen über den Tod hinaus gewährten, liege deren zeitlich begrenzte Einhaltung im öffentlichen Interesse. Daher könne eine Offenlegung der Namen verstorbener Informanten nur im Rahmen einer strukturierten Einzelfallprüfung erfolgen, bei der der Zeitablauf von 30 Jahren ein bedeutsamer, aber nicht der allein entscheidende Umstand sei.

II

10 Der 6. Senat möchte bei dem im vorliegenden Fall zu prüfenden, unmittelbar aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG hergeleiteten presserechtlichen Auskunftsanspruch (zuletzt BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2020 - 10 C 18.19 [ECLI:​DE:​BVerwG:​2020:​300120U10C18.19.0] - NVwZ 2020, 1368 Rn. 28 m.w.N.) seine Rechtsprechung fortführen, die postmortalen nachrichtendienstlichen Quellenschutz bei vor Jahrzehnten abgeschlossenen Vorgängen aufgrund einer Prüfung der Umstände des Einzelfalles nur dann als gerechtfertigt erachtet, wenn die Bekanntgabe die künftige Aufgabenerfüllung der Sicherheitsbehörden erschweren würde. Das ist nur dann der Fall, wenn sich aus einer vollständigen...

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