Beschluss vom 03. November 2021 - 1 BvL 1/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:ls20211103.1bvl000119 |
Date | 03 Noviembre 2021 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 03. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 1-92, |
Judgement Number | 1 BvL 1/19 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Ersten Senats vom 3. November 2021
1 BvL 1/19
(Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen)
- Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) erstreckt sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich. Daher muss auch die Möglichkeit zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage zeitlich begrenzt werden (Fortführung von BVerfGE 133, 143)
- Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verlangt zudem, dass der Zeitpunkt des Eintritts der tatsächlichen Vorteilslage für die Beitragspflichtigen erkennbar ist
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 1/19 -
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 3 Absatz 1 Nummer 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz |
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. September 2018 (BVerwG 9 C 5.17) - |
hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat –
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Paulus,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel
am 3. November 2021 beschlossen:
- § 3 Absatz 1 Nummer 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz - KAG RP - vom 20. Juni 1995 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 175) ist mit Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) insoweit unvereinbar, als danach Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können.
- Der Landesgesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.
A.
Das Normenkontrollverfahren betrifft das Fehlen einer zeitlichen Grenze für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen im Land Rheinland-Pfalz nach dem Eintritt der sogenannten tatsächlichen Vorteilslage. Nach Ansicht des vorlegenden Bundesverwaltungsgerichts verstößt dies gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG), da die Entstehung der sachlichen Erschließungsbeitragspflicht nach dem Baugesetzbuch (BauGB) neben der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage unter anderem deren wirksame Widmung verlangt.
I.
Das Recht der Erschließungsbeiträge war ursprünglich in den §§ 127 ff. BauGB bundesrechtlich geregelt. Nach dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz für dieses Rechtsgebiet auf die Länder in Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG im Jahre 1994 haben einzelne Länder von der ihnen damit eröffneten Regelungskompetenz Gebrauch gemacht.
Das Land Rheinland-Pfalz hat die bundesrechtlichen Regelungen zu Erschließungsbeiträgen bislang nicht durch Landesrecht ersetzt. Die Erhebung von Beiträgen für die Erschließung von Grundstücken richtet sich hier nach den bundesrechtlichen Vorschriften der §§ 127 ff. BauGB (1.), die hinsichtlich der Frage der Verjährung der Beitragsforderung durch landesgesetzliche Regelungen ergänzt werden (2.).
1. Nach § 127 Abs. 1 BauGB erheben die Gemeinden zur Deckung ihres anderweitig nicht gedeckten Aufwands für Erschließungsanlagen (§ 127 Abs. 2 BauGB) Erschließungsbeiträge. Der Erschließungsaufwand umfasst insbesondere die Kosten für den Erwerb und die Freilegung der Flächen sowie für ihre erstmalige Herstellung einschließlich der Einrichtungen für ihre Entwässerung und Beleuchtung (§ 128 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BauGB).
Die Erschließungsbeitragspflicht entsteht für im Sinne des § 133 Abs. 1 BauGB erschlossene Grundstücke. Anders als § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB meint § 133 Abs. 1 BauGB das Erschlossensein in der Heranziehungsphase (vgl. BVerwGE 126, 378 ). Zwar ist grundsätzlich von einer Deckungsgleichheit des Erschlossenseins im Sinne beider Vorschriften auszugehen. Allerdings kann sich in bestimmten Konstellationen aus § 133 Abs. 1 BauGB ein Hindernis ergeben, das vorübergehend eine Beitragserhebung für ein nach § 131 Abs. 1 BauGB erschlossenes Grundstück ausschließt. Dies ist dann der Fall, wenn das fragliche Grundstück nach Maßgabe der bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Bestimmungen zwar abstrakt bebaubar ist, eine Benutzung der Erschließungsanlage jedoch noch durch ausräumbare rechtliche oder tatsächliche Hindernisse ausgeschlossen ist. Solange diese nicht ausgeräumt sind, fehlt es am Erschlossensein im Sinne von § 133 Abs. 1 BauGB mit der Folge, dass das betreffende Grundstück noch nicht der Beitragspflicht unterliegt (vgl. BVerwGE 126, 378 ; siehe dazu auch BVerwG, Beschluss vom 18. September 2019 - 9 B 51.18 -, Rn. 4).
Das Entstehen der Erschließungsbeitragspflicht richtet sich sachlich nach § 133 Abs. 2 BauGB. Erforderlich ist im Falle des § 133 Abs. 2 Satz 1 Variante 1 BauGB die endgültige Herstellung der konkret abzurechnenden, als selbständig zu bewertenden Erschließungsanlage. Die für die endgültige Herstellung maßgeblichen Merkmale richten sich im Wesentlichen nach der Erschließungsbeitragssatzung der Gemeinde. Die Satzung muss nach § 132 Nr. 4 BauGB auch die Merkmale der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage regeln. Dem können sogenannte (Teil-)Einrichtungs- und (Aus-)Bauprogramme zugrundeliegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Anbaustraße im Sinne von § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB endgültig erst dann hergestellt, wenn sie erstmals die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm und dem dieses ergänzenden Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen Ausbauprogramm entsprechen. Zweck der Anknüpfung an das gemeindliche Satzungsrecht ist es, dass die Bürgerinnen und Bürger sich durch einen Vergleich des satzungsmäßig festgelegten Ausbauprogramms mit dem tatsächlichen Zustand, in dem sich die gebaute Anlage befindet, ein Bild darüber verschaffen können, ob die Anlage endgültig hergestellt ist (vgl. BVerwGE 158, 163 ; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 2013 - 9 C 3.12 -, Rn. 16). Soweit die jeweilige gemeindliche Satzung den Erwerb der für die Erschließungsanlage benötigten Grundstücke als Merkmal der endgültigen Herstellung im Sinne des § 132 Nr. 4 BauGB vorsieht, entsteht die Beitragspflicht zudem erst mit dem Eigentumsübergang auf die Gemeinde (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1977 - IV C 82.74 -, Rn. 19).
Neben dem unmittelbar aus § 133 Abs. 2 Satz 1 Variante 1 BauGB folgenden Erfordernis der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage ergeben sich aus dem Gesetz nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weitere Anforderungen an das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht. Da der Erschließungsbeitrag der Deckung des anderweitig nicht gedeckten Aufwandes dient, kann die Beitragsforderung – sofern nicht Einheitssätze nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Variante 2, Satz 2 BauGB festgesetzt werden – erst entstehen, wenn die erstattungsfähigen gemeindlichen Aufwendungen feststehen, regelmäßig also erst mit dem Eingang der letzten nach Abschluss der Bauarbeiten erteilten Unternehmerrechnung (vgl. BVerwGE 49, 131 ; BVerwG, Urteil vom 22. April 1994 - 8 C 18.92 -, Rn. 18).
Zudem ist für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht eine rechtswirksame Erschließungsbeitragssatzung (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 1973 - IV C 39.72 -, Rn. 10) sowie das Bestehen eines wirksamen Bebauungsplans erforderlich (vgl. BVerwGE 97, 62 ; BVerwG, Urteil vom 30. Mai 1997 - 8 C 6.95 -, Rn. 12).
Da Erschließungsbeiträge nach § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nur für öffentliche, zum Anbau bestimmte Straßen erhoben werden können, ist Voraussetzung für die Entstehung der Erschließungsbeitragspflicht zudem, dass die Anbaustraße nach Maßgabe der einschlägigen landesrechtlichen Vorgaben als öffentliche Straße gewidmet ist. Erst mit der Widmung steht die Erschließungsanlage für die Benutzung durch die Allgemeinheit gesichert zur Verfügung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1985 - 8 C 17.84 u.a. -, Rn. 23).
Persönlich beitragspflichtig ist nach § 134 Abs. 1 Satz 1 BauGB in der Regel der Eigentümer des Grundstücks im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Beitragsbescheids.
2. Regelungen zu den zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschließungsbeiträgen enthält das Baugesetzbuch nicht. Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich die Verjährung nach Landesrecht richtet (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 22. April 1994 - 8 C 18.92 -, Rn. 18 m.w.N.).
Die Länder haben sich überwiegend...
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