Beschluss vom 04. Mai 2020 - 2 BvE 1/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:es20200504.2bve000120 |
Judgement Number | 2 BvE 1/20 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 04. Mai 2020 - 2 BvE 1/20 -, Rn. 1-37, |
Date | 04 Mayo 2020 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 1/20 -
über
den Antrag festzustellen,
a) dass der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages sowie der Deutsche Bundestag dadurch gegen die Rechte der Antragstellerin aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes – Recht auf Gleichbehandlung als Fraktion sowie Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – und gegen deren aus dem Rechtsstaatsprinzip, Artikel 20 Absatz 2 Satz 2, Absatz 3 des Grundgesetzes folgendes Recht auf effektive Opposition verstoßen haben, dass der Rechtsausschuss (als Teilorgan des Deutschen Bundestages) den von der Antragstellerin entsandten Abgeordneten Brandner als Ausschussvorsitzenden durch Mehrheitsbeschluss „abgewählt“ hat, |
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b) dass der Deutsche Bundestag dadurch gegen die Rechte der Antragstellerin aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes – Recht auf Gleichbehandlung als Fraktion sowie Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – und gegen deren aus dem Rechtsstaatsprinzip, Artikel 20 Absatz 2 Satz 2, Absatz 3 des Grundgesetzes folgendes Recht auf effektive Opposition verstößt, dass er es dem von der Antragstellerin entsandten Abgeordneten Brandner unmöglich macht, seine Rechte und Pflichten als Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages tatsächlich wahrzunehmen. |
Antragstellerin: |
AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, |
- Bevollmächtigter:
-
… -
Antragsgegner: |
1. |
Deutscher Bundestag, |
2. |
Ausschuss für Recht und |
- Bevollmächtigte:
-
… -
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
König,
Maidowski,
Langenfeld
am 4. Mai 2020 beschlossen:
- Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt
A.
Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, dem mit Mehrheitsbeschluss des Bundestagsausschusses für Recht und Verbraucherschutz (im Folgenden: Rechtsausschuss) vom Amt des Vorsitzenden dieses Ausschusses abberufenen Abgeordneten Brandner einstweilen zu ermöglichen, seine Rechte und Pflichten als Vorsitzender wieder effektiv wahrnehmen zu können.
I.
1. Der Rechtsausschuss des 19. Deutschen Bundestages konstituierte sich in der Sitzung vom 31. Januar 2018. Nach der Vereinbarung im Ältestenrat steht der Vorsitz in diesem Ausschuss der AfD-Fraktion zu. Diese schlug den Abgeordneten Brandner als Vorsitzenden vor. Nach längerer Aussprache über die Bedeutung des Begriffs „bestimmen“ in § 58 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (im Folgenden: GO-BT), wonach die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat bestimmen, verständigte man sich darauf, eine Wahl durchzuführen. Bei dieser erhielt der Abgeordnete Brandner 19 von 43 abgegebenen Stimmen bei 12 Gegenstimmen und 12 Enthaltungen (vgl. das Kurzprotokoll der 1. Sitzung des Rechtsausschusses, Protokoll-Nr. 19/1).
2. Der Abgeordnete Brandner rief vor allem durch einen weitergeleiteten fremden Beitrag sowie durch eigene Beiträge auf dem Kurznachrichtendienst „Twitter“ zu dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 und zu einer Äußerung des Sängers Udo Lindenberg zum Ergebnis der Landtagswahl in Thüringen vom 27. Oktober 2019 öffentliche Empörung hervor. Daraufhin beantragten die Obleute der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis90/Die Grünen in der Sitzung des Rechtsausschusses vom 13. November 2019 die Abberufung des Ausschussvorsitzenden. Der Abgeordnete Dr. Fechner (SPD) führte zur Begründung aus, dass mit der Übernahme des Amtes des Vorsitzenden des Rechtsausschusses eine besondere Verantwortung einhergehe. Die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses hänge davon ab, dass der Vorsitzende als Repräsentant des gesamten Ausschusses wirke und wirken könne. Dafür sei es unerlässlich, dass er Bürgerinnen und Bürgern und Vertreterinnen und Vertretern des öffentlichen Lebens respektvoll begegne. Der Vorsitzende müsse innerhalb und außerhalb der Tätigkeit als Ausschussvorsitzender zumindest insoweit Mäßigung üben, als dies die unabdingbare Voraussetzung dafür sei, den Ausschuss unparteiisch zu leiten und nach außen vertreten zu können. Das Verhalten des Abgeordneten Brandner, insbesondere in den letzten Wochen, lasse nur den Schluss zu, dass ihm die Bereitschaft oder die persönliche Befähigung fehle, das wichtige Amt des Vorsitzenden des Rechtsausschusses mit der dafür erforderlichen Mäßigung auszufüllen. Gerade die parlamentarische Arbeit des Rechtsausschusses sei den Werten des Grundgesetzes wie Demokratie, Respekt, Toleranz und Vielfalt verpflichtet. Der Vorsitzende müsse diese Werte nicht nur in seiner Amtsführung verkörpern, sondern auch bei seinen sonstigen öffentlichen Betätigungen beachten. Die Vereinbarung im Ältestenrat, dass die Fraktion der AfD den Vorsitz des Rechtsausschusses stelle, habe weiterhin Bestand. Es liege nun an der Fraktion der AfD, eine Person aus ihren Reihen zu nominieren, die dem Amt des Vorsitzenden gerecht werde und es mit Anstand, Respekt und Würde ausfülle (vgl. das Protokoll der 71. Sitzung des Rechtsausschusses vom 13. November 2019, S. 21 f.).
Der Abgeordnete Reusch (AfD) erwiderte darauf, der Antrag sei nach seiner Auffassung unzulässig und offenkundig unbegründet. Für die Abwahl eines Ausschussvorsitzenden bestehe keine rechtliche Grundlage in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Hiervon unabhängig folgten die Pflichten eines Ausschussvorsitzenden aus § 59 GO-BT. Es sei zwischen den Mitgliedern des Ausschusses unstreitig, dass der Vorsitzende die Sitzungen stets professionell, parteipolitisch neutral und objektiv geleitet habe. Dementsprechend fänden sich insoweit keine Beanstandungen in der Begründung des Antrags auf Abberufung. Anders als vorgetragen sei die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses damit zu keiner Zeit durch den Vorsitzenden gefährdet worden. Es sei das gute Recht der Antragsteller, außerhalb von Sitzungen getätigte Äußerungen des Vorsitzenden zu kritisieren. Es gebe jedoch keinen rechtlichen Anspruch auf verbale Mäßigung des Ausschussvorsitzenden außerhalb von Sitzungen, so dass eine Abberufung auch nicht mit entsprechenden Äußerungen begründet werden könne. Insbesondere sei keine Verletzung der in der Rechtsprechung für Hoheitsträger entwickelten Grundsätze zum Neutralitätsgebot gegeben. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages habe in einem Gutachten vom 19. März 2018 dargelegt, dass diese relevant für Äußerungen seien, die ein Hoheitsträger in seiner hoheitlichen Funktion tätige. Spreche ein Hoheitsträger dagegen als Bürger, insbesondere als Parteipolitiker, bestünden keine besonderen Beschränkungen, da er insoweit nicht von einer Befugnis Gebrauch mache, sondern seine Freiheitsrechte, insbesondere seine Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG, wahrnehme. Die Äußerungen des Vorsitzenden in den sozialen Medien seien für jedermann leicht erkennbar nicht in seiner Funktion als Vorsitzender, sondern als Bürger und Parteipolitiker getätigt worden (vgl. das Protokoll der 71. Sitzung des Rechtsausschusses vom 13. November 2019, S. 22 f.).
Der Rechtsausschuss beschloss mit 37 Ja-Stimmen gegen sechs Nein-Stimmen, den Abgeordneten Brandner vom Ausschussvorsitz abzuberufen (vgl. das Protokoll der 71. Sitzung des Rechtsausschusses vom 13. November 2019, S. 24).
3. Seither übernimmt der stellvertretende Ausschussvorsitzende, der Abgeordnete Prof. Dr. Hirte (CDU/CSU), die Leitung des Rechtsausschusses. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusssekretariats arbeiten seitdem dem Abgeordneten Brandner als Ausschussvorsitzenden nicht mehr zu.
II.
Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2020 hat die Antragstellerin das Organstreitverfahren mit den aus dem Rubrum ersichtlichen Hauptanträgen eingeleitet. Darüber hinaus beantragt sie,
„das Bundesverfassungsgericht möge den Zustand im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig dahingehend regeln, dass der von ihr entsandte Abgeordnete Brandner seine Rechte und Pflichten als Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages wieder effektiv wahrnehmen kann“.
Diesen Antrag begründet sie wie folgt: Rechtsschutzziel sei die Ausübung ihrer Minderheitenrechte und Oppositionsaufgaben zu Bedingungen, die dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen, der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung sowie dem Grundsatz effektiver Opposition entsprächen. Dies sei nur möglich durch eine verfassungsgerichtliche einstweilige Anordnung, da sich die derzeitige verfassungsferne Situation, die ihr die Wahrnehmung ihrer essenziellen Rechte nicht erlaube, mit dem weiteren Zeitablauf von...
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