Beschluss vom 08. März 2024 - 2 BvR 1480/23
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20240308.2bvr148023 |
Judgement Number | 2 BvR 1480/23 |
Date | 08 Marzo 2024 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 08. März 2024 - 2 BvR 1480/23 -, Rn. 1-49, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1480/23 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 10. Oktober 2023 - 3 Ws 268/23 (StVollz) -, |
b) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 29. August 2023 - 3 Ws 268/23 (StVollz) -, |
|
c) |
den Beschluss des Landgerichts Marburg vom 4. Mai 2023 - 4a StVK 94/21 - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Offenloch,
Wöckel
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 8. März 2024 einstimmig beschlossen:
- Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet
- Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung einer verdeckten Fesselung bei einer Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit des sicherungsverwahrten Beschwerdeführers.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Kassel vom 7. Juni 1999 wegen schweren Raubes, versuchten Raubes und wegen versuchten Diebstahls mit Waffen sowie wegen Diebstahls in sechs Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt. Seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wurde angeordnet. Das Landgericht ging auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens davon aus, dass bei dem Beschwerdeführer eine antisoziale Persönlichkeitsstörung vorliege, die nicht den Schweregrad einer anderen seelischen Abartigkeit gemäß § 20 StGB erreiche. Es bestehe eine sehr hohe Rückfallgefahr für Straftaten mit einer erheblichen Gefahr für die Allgemeinheit.
Die Gesamtfreiheitsstrafe hatte der Beschwerdeführer am 28. Juni 2008 vollständig verbüßt. Seitdem wird die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollstreckt.
2. Während der Fortdauer der Sicherungsverwahrung wurden mehrere psychiatrische, psychologische und kriminalprognostische Gutachten erstellt. Den vorgelegten Auszügen ist zu entnehmen, dass die Sachverständigen dem Beschwerdeführer bis ins Jahr 2018 eine Persönlichkeitsstörung, ein hohes Rückfallrisiko und einen hohen Behandlungs- und Kontrollbedarf attestierten. So ging der Sachverständige Dr. (…) noch in seinem Gutachten vom 18. Februar 2018 davon aus, dass bei dem Beschwerdeführer eine psychische Störung vorliege. Eine Ausnahme bildete der Sachverständige Prof. Dr. Dr. (…), der in einer Stellungnahme vom 2. Juni 2015 empfahl, den Beschwerdeführer unverzüglich und ohne Auflagen in den offenen Vollzug zu überstellen sowie von dort unverzüglich zu entlassen. Es liege zwar eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor, die aber für die Kriminalprognose irrelevant sei. Prof. Dr. Dr. (…) war auch der letzte Sachverständige, mit dem der Beschwerdeführer ein persönliches Gespräch führte. Sämtliche folgende Gutachten wurden, weil der Beschwerdeführer ein Explorationsgespräch ablehnte, nach Aktenlage erstellt.
a) In einer kriminalprognostischen Stellungnahme vom 28. Mai 2019 kam die Fachpsychologin für Rechtspsychologie Frau Dr. (…) erstmals nicht mehr zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung sei ohne eine Exploration des Beschwerdeführers mit Schwierigkeiten verbunden, und aufgrund der dünnen Datenlage könne der aktuelle Stand einer möglicherweise vorhandenen Problematik nur vorsichtig eingeschätzt werden. Auch sie war der Auffassung, es bestehe weiterhin ein hohes allgemeines beziehungsweise zumindest ein Rückfallrisiko im oberen Durchschnitt und der Beschwerdeführer sei für den offenen Vollzug ungeeignet, wobei die Ergebnisse aufgrund der fehlenden Exploration vorsichtig zu interpretieren seien. Trotz der schlechten Legalprognose seien eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr aber nicht erkennbar und Vollzugslockerungen somit vertretbar.
b) Die Fachpsychologin für Rechtspsychologie Prof. Dr. (…) erstellte am 31. August 2020 ein kriminalprognostisches psychologisches Gutachten, in dem sie zu dem Ergebnis kam, die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung könne mangels Exploration und mangels entsprechenden Verhaltens in der Anstalt nicht mehr positiv gestellt werden. Es sei denkbar, den Beschwerdeführer zu bestimmten Aktivitäten in Begleitung von Mitarbeitern, zu denen Kontakt bestehe, ungefesselt auszuführen. Die Sachverständige betonte mehrfach, dass sich aufgrund des fehlenden Explorationsgesprächs zu vielen relevanten Punkten keine validen Angaben machen ließen. Aus den Akten ergäben sich keine Hinweise auf dissoziales Verhalten. Aus dem aktuellen Vollzugsverhalten ließen sich keine Wahrscheinlichkeiten ableiten, mit deren Hilfe positiv zu belegen sei, dass der Beschwerdeführer erneut Straftaten begehen werde. Eine gegebenenfalls noch vorliegende Gefährlichkeit könne darin bestehen, dass dissoziale Aspekte beim Beschwerdeführer noch stärker vorhanden seien, als sie unter den aktuellen Bedingungen sichtbar würden. Ein Problem stelle insbesondere seine Rigidität dar.
c) In einer weiteren kriminalprognostischen Stellungnahme vom 5. Juli 2021 kam Frau Dr. (…) erneut zu dem Schluss, dass sich weiterhin die Diagnose einer Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung gemäß gängiger Klassifikationssysteme nicht feststellen lasse. Es gebe keine Änderung im Verhalten des Beschwerdeführers. Weiterhin zeigten sich die viel beschriebene Rigidität in seiner Haltung, die Ablehnung gegenüber behandlerischen Maßnahmen, das Misstrauen gegenüber den Behandlern und die fehlende Kooperationsbereitschaft. Dieser Anteil seiner Unflexibilität spreche für die Vermutung einer psychischen Beeinträchtigung. Eine Diagnose gemäß ICD-10 Klassifikation könne weder angenommen noch ausgeschlossen werden. Auch eine antisoziale Persönlichkeitsstörung gemäß DSM-5 könne nicht sicher angenommen werden. Selbst ohne eigene Untersuchung spreche aber einiges dafür, dass sich eine vormals antisoziale Verhaltensbereitschaft im Rahmen der langjährigen Haft- und Unterbringungsdauer abgeschwächt habe. Eine Veränderung der Gefahrenprognose sei nicht zu erwarten.
3. Der Beschwerdeführer begehrte mit einem Antrag vom 28. Juli 2021 eine ungefesselte Ausführung in ein Imkereizubehörgeschäft. Er wolle sich neu einkleiden, daher sei eine gefesselte Ausführung nicht sinnvoll. Zu diesem Zeitpunkt nahm der Beschwerdeführer ausweislich des Vollzugs- und Behandlungsplans vom 26. Mai 2021 am sogenannten „Bienenprojekt“ teil und nutzte das sportliche Angebot der Justizvollzugsanstalt. Abgesehen davon lehnte er aber alle anderen Angebote der Justizvollzugsanstalt – wie schon seit Jahren – ab.
4. Die Justizvollzugsanstalt beschied seinen Antrag zunächst nicht, woraufhin der Beschwerdeführer am 2. November 2021 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung beim Landgericht stellte. Seit über 13 Jahren verweigere ihm die Justizvollzugsanstalt qualifizierte Wiedereingliederungsmaßnahmen und Erprobungen trotz Überschreitens der Zehn-Jahres-Frist und zahlreicher Gutachten, die die ungefesselte Erprobung empfohlen hätten. Insbesondere die Sachverständige Frau Dr. (…) habe nachvollziehbar dargelegt, dass im Rahmen von ungefesselten Ausführungen keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr bestehe.
5. Mit Bescheid vom 28. Dezember 2021 genehmigte die Justizvollzugsanstalt die Ausführung, lehnte den Antrag aber im Hinblick auf die Durchführung ohne (verdeckte) Fesselung ab. Beim Beschwerdeführer bestehe nach wie vor eine Persönlichkeitsstörung und er weigere sich fortwährend, Einblicke in seine Persönlichkeit zu gewähren und an einer Aufarbeitung der vielfachen kriminogenen Faktoren mitzuwirken. Deshalb sei die Gefahrenprognose unverändert und aufgrund dessen die Absprachefähigkeit in Bezug auf die Durchführung von vollzugsöffnenden Maßnahmen nicht ausreichend gegeben. Auf die einer Flucht vorbeugende Fesselung könne daher nicht verzichtet werden. Gegenüber dem Landgericht erklärte die Justizvollzugsanstalt mit Schreiben vom selben Tag, der Beschwerdeführer lasse keine Gespräche zu, die inhaltlich über die Entlassungsplanung und das Bienenprojekt hinausgingen. Er verweigere seit dem Januar 2019 jegliche Durchführung vollzugsöffnender Maßnahmen sowie Vorführungen vor Gericht, da diese bisher nicht ungefesselt durchgeführt worden seien. So verschließe er sich auch in diesem Punkt jeglichem Erkenntnisgewinn.
6. Dem trat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 7. Januar 2022 entgegen. Seine – von der Justizvollzugsanstalt in Abrede gestellte – Absprachefähigkeit habe er in über 100 Aus- und Vorführungen sowie Besuchsüberstellungen erschöpfend unter Beweis gestellt. Hierzu legte er eine Übersicht über seine Abwesenheiten im Zeitraum vom 13. November 2008 bis zum 14. November 2018 sowie zwei Ausführungsberichte vom 5. März 2013 und vom 10. April 2013 vor. Die Justizvollzugsanstalt führe auch keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer Persönlichkeitsstörung oder einer Fluchtgefahr an. Eine Persönlichkeitsstörung liege ausweislich des Gutachtens der Frau Prof. Dr. (…) vom 31. August 2020 gerade nicht vor.
7. In einer Stellungnahme vom 9....
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