Beschluss vom 10.06.2020 - BVerwG 6 AV 7.19

JurisdictionGermany
Judgment Date10 Junio 2020
Neutral CitationBVerwG 6 AV 7.19
ECLIDE:BVerwG:2020:100620B6AV7.19.0
Applied RulesGG Art. 9 Abs. 2,StPO § 99 Satz 1 und 2, §§ 100, 101 Abs. 4, 5 und 7, § 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1,VereinsG § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, 2, 4, §§ 5, 6, 10 Abs. 2
Registration Date05 Agosto 2020
Record Number100620B6AV7.19.0
Subject MatterVereinsrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Beschluss vom 10.06.2020 - 6 AV 7.19

BVerwG 6 AV 7.19

  • VG Freiburg - 22.08.2017 - AZ: VG 4 K 7042/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Juni 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Steiner
beschlossen:

  1. Die Anträge werden abgelehnt.
  2. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe I

1 Mit Bescheid vom 14. August 2017 stellte das Bundesministerium des Innern das Verbot des Vereins "linksunten.indymedia" fest. Im Bescheid wurde zugleich die Beschlagnahme und Einziehung des Vereinsvermögens verfügt und die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet. Unter dem gleichen Datum wandte sich die Verbotsbehörde an das Baden-Württembergische Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration und ersuchte es, die Verbotsverfügung zeitgleich mit der Zustellung am 25. August 2017 zu vollziehen und die erforderlichen Maßnahmen zum Zwecke der Sicherstellung des beschlagnahmten Vereinsvermögens sowie der weiteren Aufklärung der Vereinsstrukturen durchzuführen. Dem Schreiben war eine Auflistung beigefügt, in der Personen und Räumlichkeiten benannt wurden, die Gegenstand der Vollzugs- und Ermittlungsmaßnahmen sein sollten. Für die dort genannten Personen - unter ihnen auch der Antragsteller des vorliegenden Verfahrens - ersuchte die Verbotsbehörde u.a. um Durchführung einer Postbeschlagnahme. Das Baden-Württembergische Innenministerium leitete das Ersuchen mit Schreiben vom 16. August 2017 mit der Bitte um Vollzug an das Regierungspräsidium Freiburg weiter.

2 Auf Antrag des Regierungspräsidiums Freiburg ordnete das Verwaltungsgericht Freiburg mit Beschluss vom 22. August 2017 für einen Zeitraum von sechs Wochen ab Zustellung des Vereinsverbots die Sicherstellung der an den Wohnsitz des Antragstellers adressierten organisationsbezogenen Briefe und anderer Postsendungen gegen die Deutsche Post AG an. Die Öffnung der Post wurde einem namentlich genannten Bediensteten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg übertragen. Die Voraussetzungen einer Anordnung nach § 4 Abs. 4 Satz 1 und § 10 Abs. 2 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 99 StPO seien erfüllt. Im Zeitpunkt der Zustellung der Verbotsverfügung liege eine wirksame Verbots- und Beschlagnahmeverfügung vor. Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verbotsbescheids und der Vermögensbeschlagnahme drängten sich nicht auf. Einwänden gegen deren Rechtmäßigkeit sei in einem Klageverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nachzugehen. Die Anordnung diene dem legitimen Zweck der Durchsetzung der Vermögensbeschlagnahme und der weiteren Ermittlungen von für das Vereinsverbot relevanten Tatsachen. Dafür erweise sich die Postbeschlagnahme auch als geeignet. Es bestehe eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich bei den organisationsbezogenen Postsendungen, die an den Antragsteller adressiert seien, auch solche befänden, die von der vollziehbaren Beschlagnahme des Vereinsvermögens erfasst seien. Denn aus den vorgelegten Unterlagen ergebe sich, dass es sich beim Antragsteller um eine Führungspersönlichkeit des verbotenen Vereins, einen langjährigen Administrator und den Hauptbetreiber des Internetportals "linksunten.indymedia.org" handle. Es stehe zu erwarten, dass der Antragsteller aufgrund seiner hervorgehobenen Stellung im Verein Postsendungen erhalte, die den verbotenen Verein beträfen. Die Sicherstellungsanordnung sei auch erforderlich, weil auf anderem Wege nicht gleichermaßen sicher auf die Postsendungen zugegriffen werden könne. Auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sei vor dem Hintergrund der im Vereinsgesetz grundsätzlich vorgesehenen Postbeschlagnahme und angesichts des beschränkten Zeitraums zu bejahen. Um den Untersuchungserfolg und den staatlichen Zugriff auf das Vereinsvermögen nicht durch Verzögerungen zu gefährden, sei die Öffnung der Postsendungen einem Bediensteten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg zu übertragen.

3 Nach Abschluss der Postbeschlagnahme übermittelte das Regierungspräsidium Freiburg den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg mit Schreiben vom 6. Oktober 2017 an den Bevollmächtigten des Antragstellers und wies ihn auf die Möglichkeit des nachträglichen Rechtsschutzes entsprechend § 101 Abs. 7 StPO hin. Mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2017 beantragte der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Freiburg, festzustellen, dass die Sicherstellung der an seine Wohnsitzadresse adressierten organisationsbezogenen Briefe und Postsendungen, die als Vermögen von "linksunten.indymedia" durch die Verbotsverfügung des Bundesministeriums des Innern vom 14.08.2017 (ÖSII3-20106/2#9) eingezogen worden sind, sowohl dem Grunde nach wie auch nach der durchgeführten Art und Weise rechtswidrig gewesen ist.

4 Das Verwaltungsgericht behandelte den Antrag als Beschwerde gegen seinen Beschluss vom 22. August 2017 und legte ihn dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vor. Der Verwaltungsgerichtshof reichte den Antrag zur Entscheidung in eigener Zuständigkeit zurück. In der vorliegenden Konstellation könne Rechtsschutz für den am Ausgangsverfahren nicht beteiligten Antragsteller nur gemäß § 10 Abs. 2 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO gewährt werden.

5 Mit Schreiben vom 23. Februar 2018 erläuterte das Landeskriminalamt die Art und Weise seines Vorgehens. Die Deutsche Post AG habe 17 Postsendungen zu Händen des beauftragten Mitarbeiters ausgeliefert, von denen 14 nach einer äußerlichen Sichtung ohne Öffnung zurückgeleitet worden seien. Zwei Maxibriefe eines Onlinegroßhändlers seien geöffnet worden, der Inhalt sei aber nicht als verfahrensrelevant eingestuft worden. Zudem sei ein Schreiben eines Kreditinstituts geöffnet und zur Entscheidung über eine etwaige Beschlagnahme eingescannt worden. Weil das Regierungspräsidium Freiburg keine Beschlagnahme für erforderlich erachtet habe, sei die elektronische Kopie gelöscht und das Original zurück in den Postlauf gegeben worden. Nach Ablauf der Frist von der Deutsche Post AG versehentlich noch übermittelte Postsendungen seien ungeöffnet und umgehend zurückgeleitet worden.

6 Mit Schriftsatz vom 19. April 2018 erweiterte der Antragsteller sein Begehren um die Feststellung, dass die Weitergabe der beschlagnahmten Postsendungen an das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig gewesen sei und bemängelte die Unvollständigkeit und teilweise Schwärzung der Behördenakte. Die Rechtmäßigkeit der Art und Weise der Postsichtung lasse sich daher nicht feststellen.

7 Mit Beschluss vom 7. Mai 2018 hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit an das Bundesverwaltungsgericht verwiesen. Gegenstand des Verfahrens sei eine gerichtlich angeordnete verdeckte Maßnahme in Form einer Postbeschlagnahme nach § 99 StPO. Rechtsschutz dagegen sei gemäß § 10 Abs. 2 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO zu gewähren. § 101 Abs. 7 Satz 4 StPO ordne eine Entscheidung durch das in der Hauptsache befasste Gericht an. Daher sei das mit der Rechtmäßigkeit des Vereinsverbots befasste Gericht, vorliegend das Bundesverwaltungsgericht, zuständig.

8 Der Antragsgegner hat gegenüber dem Bundesverwaltungsgericht sinngemäß beantragt, die Anträge abzulehnen.

9 Eine Weitergabe von Postsendungen an das Bundesamt für Verfassungsschutz sei nicht erfolgt und die Sichtung und Öffnung der Post habe ausschließlich der im Beschluss namentlich benannte Bedienstete vorgenommen.

II

10 Die statthaften Rechtsschutzbegehren des Antragstellers bleiben ohne Erfolg. Die im Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 22. August 2017 angeordnete Postbeschlagnahme und die Art und Weise ihrer Durchführung waren rechtmäßig.

11 1. Das Bundesverwaltungsgericht ist zur Entscheidung über den vorliegenden Rechtsstreit in Folge der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 7. Mai 2018 berufen (§ 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG). Dagegen ergibt sich eine sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts nicht aus einer in § 4 Abs. 4 Satz 1, § 10 Abs. 2 Satz 4 des Gesetzes zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts vom 5. August 1964 (BGBl. I S. 593), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 10. März 2017 (BGBl. I S. 419) vereinsg>, angeordneten entsprechenden Anwendung des § 101 Abs. 7 Satz 4 StPO. Für die Anwendung dieser strafprozessualen Zuständigkeitsnorm fehlt es im vereinsrechtlichen Rechtsbehelfsverfahren an einer die entsprechende Anwendung rechtfertigenden Vergleichbarkeit. vereinsg>

12 a. Den zuständigen Behörden nach dem Vereinsgesetz sind besondere Aufklärungsbefugnisse eingeräumt, die denen der Staatsanwaltschaft ähnlich sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Februar 2001 - 6 B 3.01 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 33 S. 30). So kann die Verbotsbehörde im Zuge ihrer Ermittlungen die richterliche Vernehmung von Zeugen beantragen, Beweismittel beschlagnahmen oder Durchsuchungen ausführen (§ 4 Abs. 2 VereinsG). Auch zur Durchsetzung einer im Verbotsbescheid ausgesprochenen Beschlagnahme des Vereinsvermögens kann die zuständige Behörde Sachen im Gewahrsam des Vereins und auf Grund besonderer Anordnung im Gewahrsam Dritter sicherstellen (§ 10 Abs. 2 Satz 1 VereinsG). Diese erweiterten Befugnisse sind an die gleichen verfahrensrechtlichen Vorkehrungen gebunden, die auch für Ermittlungsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft nach der Strafprozessordnung gelten, insbesondere besteht für einzelne Maßnahmen ein Richtervorbehalt. An die Stelle des Ermittlungsrichters (§ 162 Abs. 1 StPO) tritt im...

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