Beschluss vom 10. Januar 2022 - 2 BvR 537/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220110.2bvr053721 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2022 - 2 BvR 537/21 -, Rn. 1-61, |
Judgement Number | 2 BvR 537/21 |
Date | 10 Enero 2022 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 537/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
gegen |
a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. Februar 2021 - 3 Ws 817/20 -, |
|
b) den Beschluss des Landgerichts Marburg vom 29. Oktober 2020 - 11 StVK 221/20 - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von (…) |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 10. Januar 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Marburg vom 29. Oktober 2020 - 11 StVK 221/20 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. Februar 2021 - 3 Ws 817/20 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. Februar 2021 - 3 Ws 817/20 - wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von (…) für das Verfassungsbeschwerdeverfahren
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus.
I.
1. Mit Urteil des Landgerichts Hanau vom 6. September 2004 wurde gegen den Beschwerdeführer die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
a) Dem lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im Januar 2004 auf nächtlicher Straße eine ihm unbekannte Frau von hinten umfasst, seinen Körper an sie gepresst und ihr dabei sein erigiertes Glied ans Gesäß gedrückt sowie mit der einen Hand an die Brust gefasst und mit der anderen Hand ein Messer vor den Hals gehalten hatte. Der Frau hatte es gelingen können, sich aus dem Griff zu befreien und in Richtung ihrer Wohnung zu fliehen.
b) Das Landgericht stellte bei dem Beschwerdeführer eine paranoide Schizophrenie sowie eine Tatzeitalkoholisierung von 2,11 ‰ fest und war deswegen davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt hatte.
c) Der Beschwerdeführer befand sich seit dem 7. Januar 2004 einstweilen und sodann ab dem 13. Januar 2005 gemäß § 63 StGB in der klinischen Psychiatrie. Zwischen Februar 2008 bis Juli 2009 und Juni 2016 bis November 2018 wurde die Unterbringung durch Bewährungsaussetzungen unterbrochen, die wegen einzelner Suchtmittelrückfälle jeweils widerrufen wurden. Mit Ausnahme einer Leistungserschleichung ist der Beschwerdeführer seit der Anlassverurteilung strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Seit Herbst 2019 wird der Beschwerdeführer zum Zwecke seiner bedingten Entlassung auf Wartelisten für unterschiedliche Einrichtungen des betreuten Wohnens geführt.
2. Mit angegriffenem Beschluss des Landgerichts Marburg vom 29. Oktober 2020 wurde die Fortdauer der Unterbringung nach Anhörung des Beschwerdeführers erneut angeordnet.
a) Trotz des bereits zwölf Jahre andauernden Maßregelvollzugs könne die Unterbringung des Beschwerdeführers nicht für erledigt erklärt oder zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Befinden des Beschwerdeführers sei in der Zeit von Oktober 2019 bis Januar 2020 von Unruhe und Unsicherheit geprägt gewesen. Er habe immer wieder neue Pläne für sein Leben in Freiheit und den Weg dahin entwickelt. Die Suche nach einem Wohnheimplatz habe sich als schwierig gestaltet. Unter der antipsychotischen Medikation sei der Beschwerdeführer im Rahmen einer Positivsymptomatik stabil.
b) Bei einer Entlassung zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei ohne eine differenzierte professionelle Betreuung, stabile Tagesstruktur und gesicherte soziale Unterstützung sowie Behandlungs- und Kontrollmaßnahmen mit einem zügigen Verlust der „compliance“ und einem schrittweisen Ausstieg des Untergebrachten aus den Absprachen zu rechnen. Substanzkonsum und ein Rezidiv der schizophrenen Erkrankung seien dann zu erwarten. Im Weiteren wäre mit gewalttätigen Ausbrüchen gleich der Einweisungsdelinquenz zu rechnen. Die Bereitschaft des Beschwerdeführers, sich in ein schützendes Entlassungsumfeld zu begeben und dort zu verbleiben, sei noch weiter zu festigen.
c) Die mündliche Anhörung durch die Kammer habe keine weiteren Erkenntnisse zutage gefördert, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten. Die von der Klinik beschriebene Ambivalenz des Beschwerdeführers in Bezug auf seine Zukunft sei auch in der Anhörung spürbar gewesen. So habe er einerseits zum Ausdruck gebracht, den von der Klinik skizzierten Weg in die Freiheit über einen Entlassungsurlaub und eine bedingte Entlassung gehen zu wollen. Andererseits habe sein Verteidiger auf die sofortige Entlassung aus dem Maßregelvollzug gedrängt.
d) Unter Berücksichtigung insbesondere der Bedeutung bisheriger und künftig zu besorgender Taten des oben erörterten Gefahrengrades und des mit der weiteren Vollstreckung verbundenen Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers sei die weitere Vollstreckung ohne Weiteres verhältnismäßig. Die Mittel der Führungsaufsicht und der Krisenintervention und die Möglichkeit des Widerrufs seien ohne erprobtes Entlassungssetting nicht ausreichend beziehungsweise zielführend.
3. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 11. Februar 2021 aus den zutreffenden Gründen der landgerichtlichen Entscheidung als unbegründet.
4. Der Beschwerdeführer wurde nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde vom Landgericht Marburg zum 19. April 2021 für sechs Monate aus dem Maßregelvollzug dauerbeurlaubt.
5. Im Anschluss hat der Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beantragt.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung seines Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.
1. Von ihm gehe keine die weitere Unterbringung rechtfertigende Gefahr aus.
a) Er sei krankheitseinsichtig und nehme seine Medikation seit Beginn der Unterbringung regelmäßig und eigenständig ein.
b) Bei den in der Vergangenheit liegenden Suchtmittelrückfällen habe es sich um einzelne kurzzeitige Verstöße gehandelt. Seine seitdem erreichten Therapieerfolge seien in den angegriffenen Entscheidungen nicht hinreichend berücksichtigt worden. Er habe das zur Bearbeitung der Suchtproblematik vorgesehene Therapieziel bereits drei Mal erreicht. Sämtliche von der psychiatrischen Klinik vorgesehene Lockerungsstufen habe er beanstandungsfrei durchlaufen. Er sei sich der mit seiner Suchtmittelerkrankung und der psychischen Grunderkrankung verbundenen Risiken für die Gesellschaft bewusst. Deswegen habe er Strategien entwickelt und langfristig die Medikamente eingenommen.
c) Auch der externe Sachverständige habe in seinem Gutachten im Jahr 2019 bestätigt, dass das Risiko weiterer Straftaten durch die langjährige Therapie reduziert habe werden können und nur noch begrenzt fortbestehe, und sich deswegen für eine zeitnahe Entlassung ausgesprochen.
2. Die weitere Unterbringung erweise sich in Anbetracht der Art und Schwere des Anlassdelikts mittlerweile als unverhältnismäßig.
a) Die Anforderungen an eine über zehn Jahre andauernde Unterbringung würden nicht eingehalten. Die Langwierigkeit der Unterbringung stehe in starkem Kontrast zu dem ansonsten für das zugrundeliegende Delikt geltenden Strafmaß.
b) Seit der Anlasstat seien mittlerweile siebzehn Jahre vergangen. In dieser Zeit sei es zu keinerlei Auffälligkeiten im Bereich der Gewaltdelinquenz gekommen, weder innerhalb noch außerhalb des Vollzugs. Während der fast zweijährigen Bewährungszeit habe er beanstandungsfrei in der Altenpflege gearbeitet und sein Leben autonom geführt. Auch vor der Anlassdelinquenz sei er weder in Bezug auf Gewalt- noch Sexualstraftaten in Erscheinung getreten.
III.
1. Die Regierung des Landes Hessen hat von einer Äußerung abgesehen.
2...
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