BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 852/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 23. Januar 2020 - III - 2 Ws 45/19 -, |
b) |
den Beschluss des Landgerichts Essen vom 17. Januar 2019 - I StVK 1900/17 -, |
|
c) |
die Verfügung der Staatsanwaltschaft Essen vom 15. November 2017 - 73 AR 152/17 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Müller
und die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 11. Mai 2023 einstimmig beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen
- Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG)
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen des Landgerichts Essen und des Oberlandesgerichts Hamm im Rahmen eines Exequaturverfahrens, mit denen die Vollstreckung einer in Italien verhängten Freiheitsstrafe für zulässig erklärt wurde.
Das Schwurgericht zweiter Instanz Turin - 2. Senat - hatte den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Brandstiftung in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung und vorsätzlicher Entfernung oder Unterlassung der Aufstellung von Sicherheitseinrichtungen gegen Arbeitsunfälle gemäß Art. 437 Abs. 1, Art. 449 und Art. 589 des italienischen Strafgesetzbuchs mit Urteil vom 29. Mai 2015 - Urteil Nr. 5/15 -, rechtskräftig seit dem 13. Mai 2016, zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und acht Monaten verurteilt, die im Exequaturverfahren in eine fünfjährige Freiheitsstrafe umgewandelt wurde.
II.
Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer rügt, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen das Schuldprinzip verstießen, weil in den zugrundeliegenden italienischen Entscheidungen auf den Nachweis seiner konkret-individuellen Verantwortlichkeit verzichtet worden sei. Daneben sei der Grundsatz des fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs verletzt worden, weil während des Verfahrens bestimmte Unterlagen nicht ins Deutsche übersetzt worden seien. Das Oberlandesgericht habe darüber hinaus im Vorfeld des angegriffenen Beschlusses nicht darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer einer erhöhten Darlegungslast hinsichtlich seines Einwandes unterliege, sein Recht auf ein faires Verfahren sei in dem in Italien gegen ihn geführten Strafverfahren verletzt worden. Er sieht sich in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 3 EMRK, Art. 103 Abs. 1 GG sowie Art. 48 Abs. 2 und Art. 49 Abs. 1 GRCh verletzt.
III.
Dem Justizministerium Nordrhein-Westfalen ist unter dem 8. Juli 2020 Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben worden. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
Mit Beschluss vom 14. Juli 2020 wurde dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben und die Erklärung der Zulässigkeit der Vollstreckung des gegen den Beschwerdeführer ergangenen Urteils des Schwurgerichts zweiter Instanz Turin - 2. Senat - vom 29. Mai 2015 - Urteil Nr. 5/15 - durch Beschluss des Landgerichts Essen vom 17. Januar 2019 - I StVK 1900/17 – ausgesetzt. Mit Beschlüssen vom 8. Januar, 7. Juli und 21. Dezember 2021 sowie vom 9. Juni und 24. November 2022 wurde die einstweilige Anordnung bis zur Entscheidung über die Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten, gemäß § 32 Abs. 6 Satz 2 BVerfGG wiederholt.
V.
1. Den angegriffenen Exequaturentscheidungen liegen gemäß § 84 IRG europäische Rechtsakte insbesondere in Gestalt des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl L 327 vom 5. Dezember 2008, S. 27) zugrunde. In solchen Fällen ist grundsätzlich zunächst der Grundrechtsmaßstab zu bestimmen, anhand dessen die fachgerichtliche Rechtsanwendung überprüft wird. Beruhen die angegriffenen Entscheidungen auf einer unionsrechtlich volldeterminierten Regelung, erfolgt die Überprüfung nicht anhand deutscher Grundrechte, sondern anhand der Unionsgrundrechte (vgl. BVerfGE 152, 216 <233 ff. Rn. 42 ff.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18 u.a. -, Rn. 36). Handelt es sich hingegen um eine europarechtlich nicht vollständig determinierte Materie, prüft das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts betroffen ist (vgl. BVerfGE 152, 152 <169 Rn. 42).
Ob Exequaturentscheidungen deutscher Gerichte auf teil- oder volldeterminierter unionaler Rechtsgrundlage beruhen, ist bislang in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht entschieden. Einer abschließenden Beurteilung bedarf es auch im vorliegenden Fall nicht. Denn die Verfassungsbeschwerde ist ungeachtet der Frage, ob Exequaturentscheidungen deutscher Gerichte, die aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen im unionalen Ausland ergehen, anhand europäischer oder deutscher Grundrechte zu überprüfen sind, nicht in einer den Substantiierungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise begründet. Offenbleiben kann deswegen auch, ob die fehlende Auseinandersetzung des Beschwerdeführers mit den den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegenden europäischen Rechtsakten und dem hieraus abzuleitenden Determinierungsgrad für...