Beschluss vom 14.02.2022 - BVerwG 1 B 49.21

JurisdictionGermany
Judgment Date14 Febrero 2022
Neutral CitationBVerwG 1 B 49.21
ECLIDE:BVerwG:2022:140222B1B49.21.0
CitationBVerwG, Beschluss vom 14.02.2022 - 1 B 49.21 -
Registration Date13 Abril 2022
Subject MatterAsylrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number140222B1B49.21.0

BVerwG 1 B 49.21

  • VG Münster - 07.10.2019 - AZ: VG 5 K 2927/18.A
  • OVG Münster - 22.06.2021 - AZ: OVG 19 A 4386/19.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Februar 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerinnen gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2021 wird zurückgewiesen
  2. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens
Gründe

1 I. Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

3 1.1 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris Rn. 3).

4 1.2 Danach rechtfertigt die von der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage,
ob Reintegrationsleistungen, auf die kein Anspruch besteht, bei der Frage der Existenzsicherung mitberücksichtigt werden und ob diese - bejahendenfalls - in vollem Umfang mitangerechnet werden dürfen,
schon deswegen nicht die Revisionszulassung, weil sie sich - jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. März 2005 - 1 B 11.05 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziffer 1 VwGO Nr. 32 S. 13 m.w.N.) - aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens im Sinne des Berufungsgerichts beantworten lässt.

5 Die Berücksichtigung von Reintegrationsleistungen bestimmt sich letztlich aus den Anforderungen, welche sich aus Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC an ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG ergeben. Im Einklang mit der von der Rechtsprechung des Senats aufgegriffenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (zu Art. 3 EMRK) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (zu der insoweit inhaltsgleichen Regelung des Art. 4 GRC) sind - wie zutreffend vom Berufungsgericht (UA S. 8 ff.) zugrunde gelegt - diese Voraussetzungen auch insoweit geklärt, als es um die Frage geht, ob die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung die Rechte des Schutzsuchenden aus Art. 3 EMRK gefährden und einer Abschiebung entgegen stehen. Dies ist dann der Fall, wenn der Ausländer seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält bzw. - nach einer neueren Formulierung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 [ECLI:​EU:​C:​2019:​219], Ibrahim u.a. - Rn. 93 und vom 12. November 2019 - C-233/18 [ECLI:​EU:​C:​2019:​956] - Rn. 46) - sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre" (vgl. zur Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort des internen Schutzes im Herkunftsland: BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4.20 - NVwZ 2021, 878 Rn. 65 m.w.N.).

6 Bei der Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums sind neben einem möglichen eigenen Erwerbseinkommen auch Zuwendungen von dritter Seite zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Nr. 30 Rn. 11 m.w.N.), soweit sie - wie hier durch das Berufungsgericht tatrichterlich festgestellt - tatsächlich erreichbar sind. In der Rechtsprechung des Senats ist darüber hinaus geklärt, dass (auch) Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfsorganisationen bei der Prognose zu berücksichtigen sind, ob international Schutzberechtigte im Mitgliedstaat der Zuerkennung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein werden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren, weil sie unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not leben müssen, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRC begründen, durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann (BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 22 ff.). Die Beschwerde legt weiteren oder neuerlichen Klärungsbedarf nicht dar und stellt - zu Recht - weder ausdrücklich noch sinngemäß in Abrede, dass diese zu den Voraussetzungen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ergangene Rechtsprechung auch für die - vorliegend im Streit stehende - Frage des Bestehens von Abschiebungsverboten in Bezug auf das Herkunftsland wegen einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Situation gilt.

7 1.3 Für die weitere von der Beschwerde mit der Grundsatzrüge aufgeworfene Frage,
ob Streitgegenstand des Verfahrens auf Feststellung von Abschiebungsverboten für Nigeria auch die Frage der Gefahr der Zwangsbeschneidung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist, wenn der Streitgegenstand nur auf Abschiebungsverbote beschränkt ist,
ist bereits die Entscheidungserheblichkeit nicht dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Beschwerde selbst führt aus, dass das Oberverwaltungsgericht eine erhebliche konkrete und individuelle Gefahr für Leib und Leben der Klägerinnen (im Sinne von mit der Klage nur noch geltend gemachten Abschiebungsverboten bezüglich Nigeria) wegen der Gefahr der Zwangsbeschneidung berücksichtigt, indem es sie - unter Bezugnahme auf die erstinstanzlichen Entscheidungen - verneint hat (UA S. 19 unter 3.). Im Übrigen ist geklärt, dass unionsrechtliche Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG einerseits und nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits jeweils eigenständige, in sich nicht weiter teilbare Streitgegenstände bilden (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 9).

8 1.4 Die Frage,
"Was ist eine Bevölkerungsgruppe i.S.v. § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG?",
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil sie sich in einem Revisionsverfahren ebenfalls nicht entscheidungserheblich stellen würde.

9 Das Oberverwaltungsgericht prüft eine erhebliche konkrete bzw. extreme Gefahr für die Klägerinnen im Falle ihrer Rückkehr nach Nigeria in direkter (UA S. 16 ff.) und verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG (UA S. 19 ff.) unter Zugrundelegung der Zugehörigkeit der Klägerinnen zur Gruppe in Europa geborener, von nigerianischen Eltern abstammender und nach Nigeria zurückgekehrter (Klein-)Kinder, und sieht den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 7 AufenthG für die Klägerinnen insoweit - in Bezug auf die Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe - als eröffnet an. Die Beschwerde geht fehlerhaft von der Prämisse aus, Personen, die einer "Bevölkerungsgruppe" im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG angehören, müssten wie bei der "Gruppenverfolgung" anhand von nach außen hin erkennbaren Merkmalen erkennbar sein.

10 Während sich die "Gruppenverfolgung" ebenso wie der insoweit ebenfalls geklärte (s. nur BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - BVerwGE 162, 44) Begriff der "sozialen Gruppe" auf die Verfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinne bezieht (vgl. grundlegend...

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