Beschluss vom 14. Januar 2022 - 2 BvR 1528/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220114.2bvr152821 |
Date | 14 Enero 2022 |
Judgement Number | 2 BvR 1528/21 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Januar 2022 - 2 BvR 1528/21 -, Rn. 1-37, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1528/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), |
- Bevollmächtigter:
- Rechtsanwalt (…)-
gegen |
a) den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg |
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vom 20. Juli 2021 - 4 S 1631/21 -, |
||
b) die Anordnung der Deutschen Telekom AG vom 22. April 2021 |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Maidowski
und die Richterin Langenfeld
am 14. Januar 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 20. Juli 2021 - 4 S 1631/21 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes
- Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist Bundesbeamtin bei der Deutschen Telekom AG. Sie ist aufgrund einer Erkrankung aus dem orthopädischen Formenkreis mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert.
2. Im Mai 2019 wurde die Beschwerdeführerin von ihrem bisherigen Dienstort in Stuttgart, an dem sie überwiegend im Homeoffice arbeitete, nach Darmstadt versetzt. Gegen die Versetzungsverfügung erhob die Beschwerdeführerin Widerspruch und stellte einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht Stuttgart. Das Verfahren wurde durch einen Vergleich beendet, in dem sich die Beschwerdeführerin verpflichtete, an einem ärztlichen Untersuchungsverfahren mitzuwirken. Eine daraufhin durchgeführte arbeitsmedizinische Eignungsuntersuchung kam zu dem Ergebnis, dass wegen der eingeschränkten Reisefähigkeit der Beschwerdeführerin weiterhin eine Arbeit im Homeoffice empfohlen werde und ein Umzug nur mit Fremdhilfe möglich sei.
3. Mit der hier angegriffenen Anordnung der Deutschen Telekom AG vom 22. April 2021 wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, sich ärztlich untersuchen zu lassen, da Zweifel an ihrer Dienstfähigkeit bestünden. Es sei eine sozialmedizinische Untersuchung in Auftrag gegeben worden, die die Begutachtung des körperlich-physischen Zustandes sowie erforderlichenfalls des psychosomatisch/psychischen/körperlich-orthopädischen Zustandes umfasse.
4. Gegen die Anordnung erhob die Beschwerdeführerin mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 29. April 2021 Widerspruch.
5. Am gleichen Tag beantragte sie beim Verwaltungsgericht Stuttgart den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Vorstand der Deutschen Telekom AG (im Folgenden: Antragsgegnerin). Zur Begründung machte sie geltend, dass sie durch die Untersuchungsanordnung in ihrem Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt werde. Die Anordnung sei auch isoliert anfechtbar.
6. Mit Beschluss vom 5. Mai 2021 stellte das Verwaltungsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung fest, dass die Beschwerdeführerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Widerspruchs- beziehungsweise nachfolgenden Klageverfahrens nicht verpflichtet sei, sich auf der Grundlage der Anordnung der Antragsgegnerin vom 22. April 2021 ärztlich untersuchen zu lassen. Der Zulässigkeit des Antrags stehe § 44a VwGO nicht entgegen. Der gegenteiligen Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts folge die Kammer nicht, denn es sei zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten, den Antrag als statthaft anzusehen. Der Antrag habe auch in der Sache Erfolg. Die Untersuchungsanordnung sei voraussichtlich rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 44 Abs. 6 BBG nicht vorlägen. Sie leide jedenfalls in materieller Hinsicht an erheblichen Mängeln.
7. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin änderte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg diesen Beschluss mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2021, der Beschwerdeführerin zugegangen am 16. August 2021, und lehnte den Antrag ab. Die zulässige Beschwerde sei begründet. Der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stehe § 44a Satz 1 VwGO entgegen. Der Senat habe sich mit Beschluss vom 13. Januar 2020 (4 S 2269/19, juris, Rn. 5 ff.) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung nicht entscheidungstragend der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 14. März 2019 - 2 VR 5.18 -, juris, Rn. 16 ff.) angeschlossen, dass eine Untersuchungsanordnung zur Feststellung der Dienstfähigkeit eines Beamten im Rahmen eines Zurruhesetzungsverfahrens nicht isoliert gerichtlich angreifbar sei. Die dagegen vorgebrachten Einwände seien beachtlich. Es bestünden durchaus Zweifel, ob der Beschleunigungszweck erreicht werde, wenn die Rechtmäßigkeit der Untersuchungsanordnung nicht zeitnah und unmittelbar in einem Eilverfahren, sondern nur inzident gegebenenfalls nach Jahren in einem Hauptsacheverfahren beurteilt werde. Für die Annahme einer Vollstreckbarkeit im Sinne von § 44a Satz 2 VwGO könne es darauf ankommen, ob die Nichtbefolgung einer Untersuchungsanordnung ein Dienstvergehen darstelle und nicht darauf, ob „in der Praxis nicht ernsthaft eine Disziplinarmaßnahme (droht)“ (verweisend auf: BVerwG, a.a.O., Rn. 29). Auch zeige das anhängige Verfahren, dass natürlich weiterhin über die Rechtmäßigkeit von Untersuchungsanordnungen gestritten werde und diese nicht immer einfach zu beurteilen seien, sodass es mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG durchaus problematisch erscheine, dem Beamten das Prognoserisiko mit der Begründung aufzubürden, die Rechtmäßigkeitsanforderungen seien geklärt (verweisend auf: BVerwG, a.a.O., Rn. 33). Die Einwände seien jedoch keineswegs neu. Der Senat habe gleichwohl in seinem Beschluss vom 13. Januar 2020 die Argumente des Bundesverwaltungsgerichts höher gewichtet und halte daran auch aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtseinheit fest.
Der Senat entnehme der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht, dass bereits der Ausschluss von (Eil-)Rechtsschutz gegen eine Untersuchungsanordnung unter Verweis auf § 44a VwGO Grundrechte des Beamten verletze. Da sich die Entscheidungen bislang nicht entscheidungstragend zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verhielten, sehe der Senat keinen hinreichenden Anlass, erneut seine Rechtsprechung aufzugeben und zu seiner vor dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vertretenen Linie zurückzukehren.
II.
1. Die Beschwerdeführerin hat am 24. August 2021 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügt eine Verletzung von Art. 33 Abs. 5, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Es sei mit der beamtenrechtlichen Gehorsamspflicht als hergebrachtem Grundsatz des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) nicht zu vereinbaren, dass Beamte dienstliche Weisungen von Vorgesetzten sanktionslos missachten könnten. Die Nichtbefolgung der Weisung, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen, sei ein Dienstvergehen im Sinne des § 77 Abs. 1 BBG, unabhängig davon, ob die Praxis eine derartige Dienstpflichtverletzung verfolge oder nicht. Die Annahme, dass bei Verstoß gegen die Gehorsamspflicht „in der Praxis nicht ernsthaft“ eine Disziplinarmaßnahme drohe, sei eine unbewiesene, widerlegbare und durch Rechtsprechung im Disziplinarrecht widerlegte Tatsachenbehauptung.
b) Der generelle Ausschluss der isolierten Anfechtbarkeit amtsärztlicher Untersuchungen verstoße gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eingreife. Daraus folge die Notwendigkeit, hiergegen vorgehen zu können. Die notwendige Einzelfallprüfung sei im Rahmen der Begründetheit des Rechtsbehelfs gegen die Untersuchungsanordnung vorzunehmen.
c) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebiete Art. 19 Abs. 4 GG, dass sich auch der Rechtsschutz im fachgerichtlichen Eilverfahren nicht in der bloßen...
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