Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2004:rs20041014.2bvr148104 |
Judgement Number | 2 BvR 1481/04 |
Date | 14 Octubre 2004 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 - Rn. (1-73), |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1481/04 -
des türkischen Staatsangehörigen G..., |
- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Azime Zeycan,
Herner Straße 79, 44791 Bochum –
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg |
b) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Hassemer,
Jentsch,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt
am 14. Oktober 2004 beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 30. Juni 2004 - 14 WF 64/04 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und wird aufgehoben
- Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an einen anderen Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
A.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem die aus seiner Sicht mangelhafte Umsetzung des in seiner Sache ergangenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 26. Februar 2004 sowie die Missachtung von Völkerrecht durch das Oberlandesgericht Naumburg.
I.
1. a) Der Beschwerdeführer ist der Vater des am 25. August 1999 nichtehelich geborenen Kindes Christofer. Die Kindesmutter, die den Beschwerdeführer gegenüber den Behörden zunächst nicht als Vater benannte, gab den Jungen einen Tag nach der Geburt zur Adoption frei und erklärte erstmals mit notarieller Urkunde vom 1. November 1999 ihre - am 24. September 2002 wiederholte - Einwilligung zur Adoption durch die Pflegeeltern. Bei diesen lebt der Junge seit dem 29. August 1999.
Der Beschwerdeführer erfuhr im Oktober 1999 von der Geburt des Kindes und der Adoptionsfreigabe; der Kontakt zur Kindesmutter war bereits im Juli 1999 abgebrochen. Daraufhin begann er, sich seinerseits um die Adoption seines Sohnes zu bemühen, was zunächst auf Schwierigkeiten stieß, weil seine Vaterschaft nicht anerkannt wurde. Die Vaterschaft wurde schließlich durch Urteil des Amtsgerichts Wittenberg vom 20. Juni 2000 festgestellt.
b) Mit Beschluss vom 9. März 2001 übertrug das Amtsgericht Wittenberg dem Beschwerdeführer antragsgemäß die alleinige elterliche Sorge für Christofer. Zuvor war es zu insgesamt vier Umgangskontakten zwischen dem Kind und dem Beschwerdeführer gekommen. Auf das Rechtsmittel der Pflegeeltern und des nach der Geburt zum Amtsvormund bestellten Jugendamtes Wittenberg wurde die Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts durch Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 20. Juni 2001 aufgehoben und der Antrag des Beschwerdeführers auf Übertragung des Sorgerechts zurückgewiesen. Gleichzeitig schloss das Oberlandesgericht von Amts wegen das Umgangsrecht zwischen dem Beschwerdeführer und dem Jungen aus Gründen des Kindeswohls bis zum 30. Juni 2002 aus.
c) Die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wurde von der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit unbegründetem Beschluss vom 31. Juli 2001 - 1 BvR 1174/01 - nicht zur Entscheidung angenommen.
2. a) In der Zwischenzeit hatte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht ein neues Verfahren auf Übertragung des Sorge- und Umgangsrechts anhängig gemacht. Er versuchte an sieben verschiedenen Terminen, Kontakt zu Christofer herzustellen. Diese Versuche seien erfolglos geblieben, weil die Pflegeeltern nicht zur Zusammenarbeit bereit oder abwesend gewesen seien. Zwei für Februar und Juli 2003 anberaumte Anhörungstermine vor dem Amtsgericht wurden aufgehoben. Daraufhin bestellte das Amtsgericht am 22. Juli 2003 eine Verfahrenspflegerin sowohl im Sorge- als auch im Umgangsrechtsverfahren.
Mit Beschluss vom 30. September 2003 wies das Oberlandesgericht Naumburg den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung des Umgangs wegen der nach Auffassung des Gerichts fortbestehenden Spannungen zwischen den Beteiligten und der unklaren Rechtslage ab.
b) Am 19. Januar 2001 war beim Amtsgericht Wittenberg der Antrag der Pflegeeltern auf Adoption von Christofer eingegangen. Das Jugendamt Wittenberg als Amtsvormund des Jungen hatte zuvor seine Zustimmung zur Adoption erteilt. Nachdem der Beschwerdeführer die Einwilligung in Christofers Adoption verweigert hatte, ersetzte das Amtsgericht durch Beschluss vom 28. Dezember 2001 seine fehlende Einwilligung. Am 30. Oktober 2002 wies das Vormundschaftsgericht beim Landgericht Dessau den Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Adoptionsverfahrens bis zur endgültigen Entscheidung im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ab. Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers hob das Oberlandesgericht Naumburg mit Beschluss vom 24. Juli 2003 die Entscheidung des Landgerichts auf. Das Oberlandesgericht lehnte zwar die Aussetzung des Adoptionsverfahrens bis zur Entscheidung in dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (dazu unter 3.) ab, wies in seiner Entscheidung aber darauf hin, dass die zuständigen innerstaatlichen Gerichte gegebenenfalls ein Urteil dieses Gerichtshofs zu berücksichtigen hätten. Stattdessen setzte es das Beschwerdeverfahren in dem Adoptionsverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung des mittlerweile ebenfalls beim Oberlandesgericht anhängigen, neuerlichen Sorgerechtsverfahrens aus.
3. a) Der Beschwerdeführer legte im September 2001 eine Individualbeschwerde nach Art. 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Er rügte insbesondere eine Verletzung von Art. 8 EMRK, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens schützt. Die Durchführung einer Zwangsadoption unter Missachtung der Rechte des leiblichen Vaters verstoße in eklatanter Weise gegen die Menschenwürde und das Grundrecht auf Familie. Er habe das Recht, seinen Sohn selbst zu erziehen.
b) Mit Urteil vom 26. Februar 2004 erklärte eine Kammer der Dritten Sektion des Gerichtshofs einstimmig, dass die Sorgerechtsentscheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellten. Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer auf der Grundlage von Art. 41 EMRK 15.000,-- € Schadensersatz und 1.500,-- € als Ersatz für Kosten und Auslagen zu (vgl. EGMR, No. 74969/01, Urteil vom 26. Februar 2004 – Görgülü).
aa) Im Hinblick auf das Sorgerecht verwies der Gerichtshof zunächst auf seine Rechtsprechung, wonach der Staat in Fällen, in denen nachweislich Familienbande zu einem Kind bestünden, so handeln müsse, dass diese Bande sich weiterentwickeln könnten. Daraus folge die Pflicht nach Art. 8 EMRK, auf die Zusammenführung eines leiblichen Elternteils mit seinem Kind hinzuwirken (EGMR, a.a.O., Ziffer 45 m.w.N.). Das Oberlandesgericht habe in Anbetracht der Tatsache, dass der Beschwerdeführer Christofers leiblicher Vater und unstreitig bereit und in der Lage sei, ihn zu betreuen, nicht alle möglichen Wege zur Lösung des Problems geprüft (EGMR, a.a.O., Ziffer 46).
bb) Im Hinblick auf das Umgangsrecht kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Gründe, auf die das Oberlandesgericht Naumburg seine Entscheidung, den Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind für die Dauer eines Jahres auszuschließen, gestützt habe, nicht ausreichend gewesen seien, um einen derart schweren Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers zu rechtfertigen. Ungeachtet des Ermessensspielraums der innerstaatlichen Behörden sei der Eingriff daher in Bezug auf die rechtmäßig verfolgten Ziele nicht verhältnismäßig gewesen (EGMR, a.a.O., Ziffer 50). In der vorliegenden Rechtssache müsse dem Beschwerdeführer deshalb mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden (EGMR, a.a.O., Ziffer 64).
4. a) Daraufhin übertrug das Amtsgericht Wittenberg dem Beschwerdeführer mit Beschluss vom 19. März 2004 in dem Parallelverfahren zum Sorgerecht antragsgemäß die alleinige elterliche Sorge. Des Weiteren erließ das Amtsgericht von Amts wegen mit Beschluss vom selben Tag und unter Bezugnahme auf diese Sorgerechts-Entscheidung eine einstweilige Anordnung zum Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Sohn. Er erhielt das Recht, ab dem 3. April 2004 jeweils sonnabends für zwei Stunden - bis zum rechtskräftigen Abschluss des Sorgerechtsverfahrens - Umgang mit seinem Sohn zu haben.
b) Der Amtsvormund und die Verfahrenspflegerin des Kindes erhoben Beschwerde gegen den Umgangsrechts-Beschluss des Amtsgerichts. Das Oberlandesgericht Naumburg setzte zunächst mit Beschluss vom 30. März 2004 die einstweilige Anordnung außer Vollzug und hob diese mit weiterem Beschluss vom 30. Juni 2004 auf.
Eine Umgangsregelung könne...
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