Beschluss vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2009:cs20090115.2bvc000404 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 - Rn. (1-37), |
Date | 15 Enero 2009 |
Judgement Number | 2 BvC 4/04 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s a t z
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009
- 2 BvC 4/04 -
Im Wahlprüfungsverfahren kann auch nach Ablauf einer Wahlperiode ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsgemäßheit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvC 4/04 -
über
die Wahlprüfungsbeschwerde
des Herrn S…,
gegen | den Beschluss des Deutschen
Bundestages vom 6. November 2003 - WP 206/02 -,
BTDrucks 15/1850, S. 57 ff. |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Voßkuhle,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau
am 15. Januar 2009 beschlossen:
Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich erledigt.
I.
1. Der Beschwerdeführer erhob mit Schreiben vom 22. November 2002 und ergänzenden Schreiben vom 22. Mai 2003, 29. Mai 2003 und 25. Juni 2003 beim Deutschen Bundestag Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag am 22. September 2002.
Zur Begründung machte er geltend, das gesamte Wahlrecht sei verfassungswidrig, weil es nicht in der Verfassung selbst normiert sei. Die in Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 1 GG geregelte Altersgrenze für das aktive Wahlrecht verletze die Wahlrechtsgrundsätze. Gleiches gelte für die Fünf-Prozent-Sperrklausel (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG), die Zuteilung von Überhangmandaten (§ 6 Abs. 5 BWG), die Aufstellung „starrer“ Landeslisten (§ 27 Abs. 1 BWG) und die Verbindung von Verhältnis- und Personenwahl. Die auf der Grundlage von § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG vorgenommene Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern, die in zwei Berliner Wahlkreisen mit ihrer Erststimme der jeweiligen Wahlkreiskandidatin der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) zu einem Mandat verholfen, mit ihrer Zweitstimme jedoch für eine andere Landesliste gestimmt haben (sogenannte Berliner Zweitstimmen), verstoße gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Darüber hinaus sei es im Vorfeld der Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag durch ein Täuschungsverhalten von Regierungsmitgliedern zu erheblichen Einflussnahmen auf die Wähler gekommen. Die Bundesregierung habe ferner durch Veröffentlichungen vor der Wahl ihre Pflicht zur Wahrung parteipolitischer Neutralität verletzt. Auch der Einfluss auf die Willensbildung der Wähler durch Meinungsumfragen unmittelbar vor der Wahl sei verfassungswidrig. Zudem sei die aufgrund einer Verletzung von Rechenschaftspflichten unzulässige Finanzierung von Wahlwerbung durch die Freie Demokratische Partei (FDP) für den Wahlausgang maßgeblich gewesen. Schließlich stelle eine rechtswidrige Datennutzung seitens der Christlich Demokratischen Union (CDU) für Wahlkampfzwecke einen Wahlfehler dar.
2. Der Deutsche Bundestag wies den Wahleinspruch in seiner 72. Sitzung vom 6. November 2003 als offensichtlich unbegründet zurück (vgl. Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 23. Oktober 2003, BTDrucks 15/1850, S. 57 ff.
3. Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 5. Januar 2004 erhobene Beschwerde. Sie wird von mehr als einhundert Wahlberechtigten unterstützt. Der Beschwerdeführer wiederholt seine Rügen aus dem Einspruchsverfahren.
4. Am 21. Juli 2005 hat der Bundespräsident den 15. Deutschen Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 GG aufgelöst (BGBl I S. 2169). Am 18. September 2005 hat die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag stattgefunden und der 16. Deutsche Bundestag hat sich konstituiert.
Der Beschwerdeführer verfolgt seine Beschwerde weiter.
II.
Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich erledigt.
1. Das Wahlprüfungsverfahren soll die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages gewährleisten (vgl. BVerfGE 1, 430 ; 103, 111 ; stRspr). Da der 15. Deutsche Bundestag aufgelöst worden ist und sich ein neuer Bundestag konstituiert hat, kann eine Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde keine Auswirkungen mehr auf die ordnungsgemäße Zusammensetzung des 15. Deutschen Bundestages haben. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist insoweit gegenstandslos geworden (vgl. BVerfGE 22, 277 ; 34, 201 ).
2. Das Bundesverfassungsgericht bleibt grundsätzlich auch nach der Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen Rügen der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen.
a) Ob eine Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt wird, obliegt der freien Entscheidung jedes Beschwerdeberechtigten. Das Bundesverfassungsgericht kann nicht von Amts wegen tätig werden. Die Wahlprüfungsbeschwerde hat demgemäß eine Anstoßfunktion. Über den weiteren Verlauf des überwiegend objektiven Verfahrens (vgl. BVerfGE 34, 81 ) entscheidet jedoch das Bundesverfassungsgericht. Insoweit kommt es auf das öffentliche Interesse an (vgl. BVerfGE 89, 291 ).
b) Nach Ablauf einer Wahlperiode kann ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsgemäßheit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat.
aa) Die strikte rechtliche Regelung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl und eine Kontrolle der Anwendung dieser Vorschriften entsprechen der Bedeutung der Wahl zum Deutschen Bundestag als Ausgangspunkt aller demokratischen Legitimation wie auch der Gewährleistung des aktiven und passiven Wahlrechts durch Art. 38 GG (vgl. BVerfGE 89, 243 ). In der durch das Grundgesetz verfassten freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Das Volk übt sie in Wahlen und Abstimmungen aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen (vgl. BVerfGE 97, 317 ); die Wahlen zur Volksvertretung sind der Grundakt demokratischer Legitimation (vgl. BVerfGE 44, 125 ). Die Ausübung des Wahlrechts stellt sich essentiell als Teilhabe an der Staatsgewalt, als ein Stück Ausübung von Staatsgewalt im status activus dar...
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