Beschluss vom 16. Dezember 2021 - 1 BvR 1541/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rs20211216.1bvr154120 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 2021 - 1 BvR 1541/20 -, Rn. 1-131, |
Date | 16 Diciembre 2021 |
Judgement Number | 1 BvR 1541/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 2021
- 1 BvR 1541/20 -
Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung in der Triage
- Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich für den Staat das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung und ein Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen
- Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Dazu gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung, eine mit der Benachteiligung wegen Behinderung einhergehende Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wie das Leben oder auch Situationen struktureller Ungleichheit
- Der Schutzauftrag verdichtet sich hier, weil das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen besteht.
- Dem Gesetzgeber steht auch bei der Erfüllung einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Entscheidend ist, dass er hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1541/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
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des Herrn (…), |
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der Frau (…), |
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der Frau (…), |
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des Herrn (…), |
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des Herrn (…), |
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des Herrn (…), |
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der Frau (…), |
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des Herrn (…), |
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des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…)
gegen |
das Unterlassen staatlicher Maßnahmen, die Beschwerdeführenden vor Benachteiligungen wegen ihrer Behinderung im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung im Laufe der Coronavirus-Pandemie wirksam zu schützen |
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Paulus,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel
am 16. Dezember 2021 beschlossen:
- Der Gesetzgeber hat Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird.
- Der Gesetzgeber ist gehalten, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zu treffen.
- Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 9) wird verworfen.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführenden zu 1) bis 8) ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
A.
Die Verfassungsbeschwerde zielt auf wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen, die im Laufe der Coronavirus-Pandemie nicht für alle Behandlungsbedürftigen ausreichen können, also in einem Fall einer Triage.
Die Verfassungsbeschwerde war mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden. Der Eilantrag wurde mit Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2020 zurückgewiesen. Es war zu diesem Zeitpunkt nicht konkret absehbar, dass die Plätze für eine intensivmedizinische Behandlung in den Krankenhäusern nicht ausreichen würden, um notwendige Maßnahmen für alle Behandlungsbedürftigen zu ergreifen.
I.
1. Menschen mit einer Behinderung sind in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. Sie unterliegen in Heimen und Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko und tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an COVID-19 zu sterben (vgl. u.a. Zander, ZDS 1/2021; Shakespeare et al., Lancet 397 (2021) 1331; Deutsches Institut für Menschenrechte, Das Recht auf gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung in der Corona-Pandemie, 2020; grundsätzlich zu den Risiken World Health Organization, World Report on Disability, 2011, S. 55 ff.; United Nations, Report of the Special Rapporteur on the rights of persons with disabilities, 2018, A 73/161, §§ 22 ff.). Im Rahmen der Vereinten Nationen wurde im Zusammenhang mit der Pandemie auf die Gefahr hingewiesen, dass behinderte Menschen bei Anwendung von Behandlungsschemata im Fall der Triage keinen gleichwertigen Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten könnten (United Nations Policy Brief: A Disability-Inclusive Response to COVID-19, May 2020, S. 5 f., 11, unter Verweis auf Truog et al., The New England Journal of Medicine 2020, 382(21):1973; dazu auch COVID-19 Disability Rights Monitor, Disability rights during the pandemic, 2020, S. 41 ff.). Daraufhin haben sich 138 Staaten und darunter auch Deutschland in einer Stellungnahme ausdrücklich für eine inklusive, also nicht wegen einer Behinderung benachteiligende Reaktion auf die Pandemie ausgesprochen (Joint Statement on the UN Secretary-General´s call for a disability-inclusive response to COVID-19 - Towards a better future for all, 18 May 2020). Desgleichen haben der Fachausschuss zur Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und die UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte der Menschen mit Behinderungen (Basharu/Reyes, Joint Statement: Persons with Disabilities and COVID-19 by the Chair of the United Nations Committee on the Rigths of Persons with Disabilities, on behalf of the Committee on the Rights of Persons with Disabilities and the Special Envoy of the United Nations Secretary-General on Disability and Accessibility, 2020) wie auch die Weltgesundheitsorganisation in ihren Erwägungen zum Thema Behinderung während des COVID-19 Ausbruchs (WHO, Disability considerations during the COVID-19 outbreak, WHO/2019- nCoV/Disability/2020.1, 2020) auf die besondere diskriminierungsanfällige Situation von Menschen mit Behinderung in der Pandemie hingewiesen und an die Staatengemeinschaft appelliert, insofern Schutz zu gewährleisten.
In Deutschland haben die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern in ihrer Düsseldorfer Erklärung schon im Jahr 2019 – also noch unabhängig von der Coronavirus-Pandemie – darauf hingewiesen, der Zugang zur medizinischen Versorgung müsse ohne Diskriminierung erfolgen und dies müsse auch durch Ausbildung gewährleistet werden (vgl. Behindertenbeauftragte von Bund und Ländern, Düsseldorfer Erklärung, 2019, S. 1 f., 4). Eine von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebene Studie zu Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen hält im Ergebnis fest, die Forschung zeige derzeit, dass für Menschen mit Behinderungen weder ein chancengleicher Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems noch eine diskriminierungsfreie Diagnosestellung und Behandlung gewährleistet sei (Bartig/Kalkum/Le/Lewicki im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen, 2021, S. 50).
2. Im Rahmen der Coronavirus-Pandemie hat das Thema der begrenzten intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten in den Krankenhäusern besondere Aufmerksamkeit erlangt. Das Risiko einer Triage in der Intensivmedizin war mehrfach Gegenstand der öffentlichen Diskussion. So warnte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im Jahr 2020, es könne im Falle hoher Infektionszahlen zu Kapazitätsengpässen in der intensivmedizinischen Versorgung kommen (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 181 - Bundesnotbremse I). Nach Berichten in den Medien, wonach es in Alten- und Pflegeheimen sowie in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung zu einer „Triage vor der Triage“ komme, hat der Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages dazu in nichtöffentlicher Sitzung am 3. März 2021 ein Fachgespräch geführt (Pressemitteilung vom 3. März 2021, heute im bundestag Nr. 279). Auch zum Zeitpunkt dieser Entscheidung wird angesichts der hohen Zahl der Infektionen und vor allem wegen der Zunahme von intensivmedizinisch Behandlungsbedürftigen in Krankenhäusern und der konkreten Auslastung der intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten die verschärfte Gefahr gesehen, dass im Laufe der Coronavirus-Pandemie eine Entscheidung über die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen notwendig wird.
3. Um in der Pandemie auftretende Knappheitssituationen in der Intensivmedizin und damit eine Triage schon von vornherein zu verhindern, wurden zahlreiche Verordnungen und Gesetze in Kraft gesetzt oder geändert. Gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung nicht für alle ausreichender intensivmedizinischer Kapazitäten gibt es bislang aber nicht.
Auch in der Praxis gibt es für die Triage kein international konsentiertes System und – ebenso nach den Stellungnahmen in diesem Verfahren – keine allgemein geltenden oder rechtlich verbindlichen Standards. Es finden jedoch standardisierte Entscheidungshilfen Anwendung. Für die Rettungsdienste gilt eine unter Federführung des Bundesministeriums des Innern erarbeitete Einigung der Konsensuskonferenz an der Akademie für Notfallplanung...
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