Beschluss vom 19. Dezember 2023 - 2 BvR 1936/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20231219.2bvr193622 |
Judgement Number | 2 BvR 1936/22 |
Date | 19 December 2023 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2023 - 2 BvR 1936/22 -, Rn. 1-42, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1936/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
- (…)
gegen | den Beschluss des Landgerichts Chemnitz - auswärtige Strafvollstreckungskammer Döbeln - vom 13. September 2022 - DL II StVK 271/22 - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von (…) |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Maidowski,
Offenloch
am 19. Dezember 2023 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Chemnitz - auswärtige Strafvollstreckungskammer Döbeln - vom 13. September 2022 - DL II StVK 271/22 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.
- Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Landgericht Chemnitz zurückverwiesen.
- Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro festgesetzt.
Der inhaftierte Beschwerdeführer wendet sich gegen einen in einem Eilrechtsschutzverfahren ergangenen Beschluss betreffend seine Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt.
I.
Der Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er befindet sich seit dem 5. August 2002 in Haft. Zunächst war er in der Justizvollzugsanstalt Tonna (Thüringen) inhaftiert. Ab dem 27. Mai 2016 absolvierte er eine Sozialtherapie in der Justizvollzugsanstalt Waldheim (Sachsen) (1.). Von dort wurde er am 20. Juli 2020 aus Sicherheitsgründen in die Justizvollzugsanstalt Dresden (Sachsen) verlegt (2.). Am 10. August 2022 folgte die in Streit stehende Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Tonna (Thüringen), wo sich der Beschwerdeführer seitdem befindet (3.).
1. a) In der Fortschreibung des Vollzugs- und Eingliederungsplans der Justizvollzugsanstalt Waldheim vom 25. März 2019 wurde niedergelegt, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sozialtherapeutischen Abteilung wegen in dessen Person liegender Gründe beendet werden solle. Zwar sähen die Konferenzteilnehmer bei dem Beschwerdeführer durchaus Ansätze einer positiven Verhaltensänderung. Es bestehe aber nach wie vor eine fehlende Motivation, und es mangele ihm an Einsicht in behandlungsrelevante Problembereiche. Eine Änderung dieses Defizits sei nach der bisherigen Zeit des Beschwerdeführers in der Sozialtherapeutischen Abteilung nicht zu erwarten.
b) Mit im Anschluss daran ergangenem Bescheid vom 22. Juli 2019 verfügte die Justizvollzugsanstalt Waldheim die Beendigung der Unterbringung des Beschwerdeführers in deren Sozialtherapeutischer Abteilung sowie seine Rückverlegung in „die für ihn zuständige“ Justizvollzugsanstalt Tonna. Zwar lägen die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Sozialtherapeutischen Abteilung gemäß § 17 Abs. 2 des Sächsischen Strafvollzugsgesetzes (SächsStVollzG) grundsätzlich vor. Allerdings sei nach dessen nunmehr über dreijähriger Behandlung in der Sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Waldheim festzustellen, dass das Ziel der Behandlung aus Gründen, die in der Person des Beschwerdeführers lägen, nicht erreicht werden könne (§ 17 Abs. 5 SächsStVollzG). Daher sei sein Aufenthalt in der dortigen Sozialtherapeutischen Abteilung zu beenden.
c) Mit Beschluss vom 13. Mai 2022 hob das Landgericht Chemnitz den Bescheid der Justizvollzugsanstalt Waldheim vom 22. Juli 2019 insoweit auf, als darin die Rückverlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt Tonna angeordnet wurde, und wies die Sache zur erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung der Strafvollstreckungskammer an die Justizvollzugsanstalt Waldheim zurück. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hätten Gefangene bei Verlegungsentscheidungen einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Mit Beendigung der Sozialtherapie habe eine Rückverlegung demnach nicht automatisch angeordnet werden dürfen, sondern es hätte ein Verbleib des Beschwerdeführers innerhalb des Regelvollzugs der Justizvollzugsanstalt Waldheim beziehungsweise einer anderen sächsischen Vollzugsanstalt geprüft werden müssen. Die Justizvollzugsanstalt Waldheim habe in der angegriffenen Verfügung indes keinerlei Abwägung getroffen, sondern „automatisiert“ entschieden, dass der Beschwerdeführer in die entsendende Justizvollzugsanstalt zurückzuverlegen sei.
2. Noch während des laufenden gerichtlichen Verfahrens um die Rechtmäßigkeit der Verlegungsentscheidung vom 22. Juli 2019 verfügte die Justizvollzugsanstalt Waldheim mit – noch am selben Tag vollzogenem – Bescheid vom 20. Juli 2020 gemäß § 76 SächsStVollzG aus Sicherheitsgründen die unmittelbare Verlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt Dresden. Diesen Bescheid hob das Landgericht Chemnitz mit (weiterem) Beschluss vom 13. Mai 2022 ebenfalls auf. Es lasse sich nicht feststellen, dass im Zeitpunkt des streitgegenständlichen Bescheids eine derart hohe Sicherheitsgefährdung vorgelegen habe, die eine sofortige Verlegung des Beschwerdeführers erforderlich gemacht hätte. Der Beschluss schließt mit dem Hinweis der Strafvollstreckungskammer, der Beschwerdeführer sei zur Folgenbeseitigung in die Justizvollzugsanstalt Waldheim zurückzuverlegen, wobei es vor dem Hintergrund, dass er sich „seit mehr als 2 Jahren“ (wohl gemeint: seit fast zwei Jahren) in der Justizvollzugsanstalt Dresden befinde, hierfür einer weiteren Abwägung bedürfe.
Eine Rückverlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt Waldheim erfolgte indes nicht; er verblieb zunächst in der Justizvollzugsanstalt Dresden.
3. a) Mit Bescheid vom 22. Juni 2022 verfügte die Justizvollzugsanstalt Waldheim – die davon ausging, sie habe vor dem Hintergrund der mit Beschluss des Landgerichts Chemnitz vom 13. Mai 2022 erfolgten (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 22. Juli 2019 (siehe oben Rn. 5) nunmehr erneut über die Verlegung des Beschwerdeführers zu entscheiden – die Zurückverlegung des Beschwerdeführers „in die für ihn sachlich und örtlich zuständige Justizvollzugsanstalt des Freistaates Thüringen“. Nach Beendigung der Sozialtherapie und eingehender Prüfung insbesondere von Resozialisierungsaspekten bestünden keine Gründe für den weiteren Verbleib des Beschwerdeführers in der Justizvollzugsanstalt Waldheim oder einer anderen sächsischen Justizvollzugsanstalt. Nachdem der ursprüngliche Verlegungsgrund – die sozialtherapeutische Behandlung – entfallen sei, sei die Zuständigkeit für den Beschwerdeführer auf den Freistaat Thüringen übergegangen.
Ein Verbleib in der Justizvollzugsanstalt Waldheim komme nicht in Betracht, weil die Abteilung für Gefangene mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung – wo der Beschwerdeführer im Falle seines Verbleibs unterzubringen wäre – in örtlicher, sachlicher und fachlicher Einheit mit der Abteilung für Sozialtherapie etabliert sei und der gleichen Struktur folge, von welcher der Beschwerdeführer schon während seiner Teilnahme an der Sozialtherapie nicht habe profitieren können. Eine Integration in diese Abteilung wäre für die Resozialisierung des Beschwerdeführers mithin nicht förderlich. Eine Verlegung des Beschwerdeführers in den Regelvollzugsbereich der Justizvollzugsanstalt Waldheim sei nicht angezeigt, weil der Behandlungsauftrag, der sich aus dem Ultima-Ratio-Gebot der Sicherungsverwahrung ergebe, dort kaum umsetzbar sei.
Soweit der Beschwerdeführer aktuell in der Abteilung für Strafgefangene mit vorbehaltener oder angeordneter Sicherungsverwahrung der Justizvollzugsanstalt Dresden untergebracht sei, sei diese Abteilung gebeten worden, eine Prüfung vorzunehmen, wie seine weitere vollzugliche Entwicklung verlaufen sei und welche Behandlungsprognose gestellt werde. Die Justizvollzugsanstalt Dresden habe insoweit ausgeführt, dass eine vertiefte und nachhaltige Auseinandersetzung mit den Ursachen der Straffälligkeit beziehungsweise der Persönlichkeit des Beschwerdeführers nicht stattgefunden habe...
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Beschluss vom 30. September 2024 - 2 BvR 150/24
...Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juli 2015 - 2 BvR 48/15 -, Rn. 10; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2023 - 2 BVR 1936/22 -, Rn. 33) und der Antragsteller im Eilverfahren zugleich die Rückgängigmachung des Vollzugs dieser Maßnahme begehrt (vgl. BVerfG, Beschluss ......
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Beschluss vom 30. September 2024 - 2 BvR 150/24
...Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juli 2015 - 2 BvR 48/15 -, Rn. 10; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2023 - 2 BVR 1936/22 -, Rn. 33) und der Antragsteller im Eilverfahren zugleich die Rückgängigmachung des Vollzugs dieser Maßnahme begehrt (vgl. BVerfG, Beschluss ......