Beschluss vom 21. März 2023 - 2 BvR 626/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230321.2bvr062620 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2023 - 2 BvR 626/20 -, Rn. 1-33, |
Date | 21 Marzo 2023 |
Judgement Number | 2 BvR 626/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 626/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Landgerichts Hamburg |
vom 4. März 2020 - 621 Qs 7/20 -, |
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b) |
den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg |
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vom 13. Januar 2020 - 166 Gs 872/19 -, |
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c) |
den Beschluss des Landgerichts Hamburg |
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vom 4. September 2019 - 621 Qs 99/19 - |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Müller
und die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
am 21. März 2023 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. September 2019 - 621 Qs 99/19 -, der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 13. Januar 2020 - 166 Gs 872/19 - und der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. März 2020 - 621 Qs 7/20 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 10 Absatz 1 des Grundgesetzes
- Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. März 2020 - 621 Qs 7/20 - wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Kosten an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen
- Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten
I.
1. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist ein gegen den Vater des Beschwerdeführers, (…) (im Folgenden: Beschuldigter), geführtes Ermittlungsverfahren. Ihm wird vorgeworfen, sich 1980 seiner damals 17-jähriger Tochter (…) in der Absicht genähert zu haben, an dieser gegen ihren Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Er soll sie auf bislang unbekannte Weise getötet haben, um den vorausgegangenen Übergriff zu verdecken und der Strafverfolgung zu entgehen. Das Verfahren wurde 1980 sowie nach kurzzeitiger Wiederaufnahme im Jahr 1981 eingestellt, nachdem die Ermittlungen erfolglos verlaufen waren. Nach einer verbüßten Haftstrafe in einer anderen Sache verließ der Beschuldigte das Bundesgebiet. Seitdem lebt er in Costa Rica.
2. Angesichts weiterhin bestehender Zweifel an der Unschuld des Beschuldigten nahm die Staatsanwaltschaft Hamburg im Jahr 2019 die Ermittlungen wieder auf. Auf ihren Antrag ordnete das Amtsgericht Hamburg mit hier nicht gegenständlichem Beschluss vom 20. August 2019 die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation der costa-ricanischen Rufnummer des Beschuldigten im Wege der Auslandskopfüberwachung bis zum Ablauf des 20. Oktober 2019 an. In einem Vermerk vom 3. September 2019 stellte das Landeskriminalamt Hamburg fest, dass bis dahin keine Kommunikation zum oder vom überwachten Anschluss des Beschuldigten erfolgt sei.
3. Das Landeskriminalamt Hamburg kontaktierte den Beschwerdeführer am 2. September 2019, um mit ihm einen Vernehmungstermin zu vereinbaren. Über den Gesprächsinhalt fertigte die zuständige Kriminalbeamtin folgenden Vermerk:
Nachdem am 02.09.2019 durch (…) die telefonische Erreichbarkeit ihres in Hessen lebenden Bruders (…) bekannt wurde, wurde dieser am 02.09.2019 gegen 17:15 Uhr durch die Unterzeichnerin fernmündlich kontaktiert. Herrn (…) wurde zunächst erläutert, dass die Ermittlungen im Fall des Verschwindens seiner Schwester (…) wieder aufgenommen worden seien und aufgrund dessen ein Interesse daran bestehe, ihn zum Sachverhalt zu hören. Herr (…) erklärte, sich hierfür gerne Zeit zu nehmen, sodass eine Vernehmung für den 25.09.2019 in Hessen anvisiert wurde. Weiter fragte Herr (…) schließlich, ob die Unterzeichnerin wisse, ob sein ‚juristischer Vater‘ noch lebe. Dieser sei nach Costa Rica ausgewandert. Bevor die Unterzeichnerin Herrn (…) auf diese Frage antworten konnte, teilte dieser weiter mit, in den 90er Jahren Kontakt zu seinem Vater aufgenommen zu haben. Hierfür sei er nach Costa Rica, im Bereich des Playa de Coco, geflogen und ‚habe ihn gefragt‘, da er ihn ‚eigentlich immer im Verdacht‘ gehabt habe. Hierauf habe sein Vater nicht geantwortet. Auf Nachfrage, ob Herr (…) noch im Besitz von Kontaktdaten seines Vaters sei, schilderte er, nicht zu wissen, ob er noch derartige vorliegen habe. Dies sei in einer Zeit ohne Internet gewesen. Seitdem habe er seinen Vater nie wieder gesehen. Da Herr (…) nun nochmals fragte, ob sein Vater am Leben sei, wurde ihm dies von der Unterzeichnerin bejaht.
4. Die Staatsanwaltschaft Hamburg stellte daraufhin den Antrag, die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zweier Telefonrufnummern des Beschwerdeführers anzuordnen. Zur Begründung führte die Staatsanwaltschaft im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer nach Bekanntwerden der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens Kontakt zum Beschuldigten aufnehmen werde und verwies hierzu auf die Erkenntnisse aus dem Telefonat vom 2. September 2019. Das Amtsgericht Hamburg wies diesen Antrag mit Beschluss vom 3. September 2019 zurück.
5. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg ordnete das Landgericht Hamburg mit Beschluss vom 4. September 2019 die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zweier Telefonrufnummern des Beschwerdeführers bis zum Ablauf des 20. Oktober 2019 an. Es sei zu erwarten, dass der Beschwerdeführer, der von der Wiederaufnahme der Ermittlungen Kenntnis und offenbar weiterhin Interesse an der Aufklärung des Sachverhalts habe, wieder Kontakt zum Beschuldigten aufnehmen werde, um mit diesem hierüber zu sprechen.
6. Die Überwachung der Telekommunikation des Beschwerdeführers wurde am 8. Oktober 2019 abgeschaltet.
7. Bereits mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2019 legte der Beschwerdeführer Einspruch gegen die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung ein und beantragte die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme sowie der Art und Weise ihres Vollzugs. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2019 setzte die Staatsanwaltschaft Hamburg den Beschwerdeführer förmlich über Inhalt und Umfang der Überwachungsmaßnahme in Kenntnis.
8. Mit Beschluss vom 13. Januar 2020 stellte das Amtsgericht Hamburg fest, dass die angeordnete Telekommunikationsüberwachung sowie die Art und Weise ihres Vollzugs rechtmäßig gewesen seien.
Die Überwachung der Telekommunikation habe sich gegen den Beschwerdeführer als nicht tatverdächtigen sogenannten „Nachrichtenmittler“ gerichtet. Darunter werde eine Person verstanden, von der aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden könne, dass sie in Kontakt zum Beschuldigten stehe oder stehen werde und in einen Informationsaustausch eingebunden sei oder sein werde. Für die Beurteilung der Frage, wer als „Nachrichtenmittler“ in Betracht komme, könne es aufgrund der Verschiedenheit der Lebenssachverhalte keinen eindeutigen Maßstab geben. Hintergrund der Annahme einer Nachrichtenmittlereigenschaft des Beschwerdeführers sei gewesen, dass er im Telefonat mit dem Landeskriminalamt Hamburg am 2. September 2019 von der Wiederaufnahme der Ermittlungen erfahren habe. Im Telefonat habe er Interesse am Fall geäußert, habe wissen wollen, ob der Beschuldigte noch lebe, und habe von sich aus mitgeteilt, dass er den Beschuldigten „eigentlich immer im Verdacht“ gehabt habe, für das Verschwinden von (…) verantwortlich gewesen zu sein. In den Neunzigerjahren habe er Kontakt zum Beschuldigten aufgenommen, sei nach Costa Rica gereist und habe ihn...
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