Beschluss vom 21. September 2023 - 2 BvR 825/23
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230921.2bvr082523 |
Judgement Number | 2 BvR 825/23 |
Date | 21 September 2023 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. September 2023 - 2 BvR 825/23 -, Rn. 1-39, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 825/23 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…) -
gegen |
die Untätigkeit des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im Haftprüfungsverfahren - 1 HEs 623–625/22 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
und den Richter Offenloch
am 21. September 2023 einstimmig beschlossen:
- Es wird festgestellt, dass die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main - 1 HEs 623–625/22 - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein gerichtliches Untätigbleiben im besonderen Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 StPO. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat erst am 26. Juni 2023 eine Entscheidung über die Haftfortdauer getroffen, obwohl sich der Beschwerdeführer seit dem 30. Juni 2022 in Untersuchungshaft befindet und dem Gericht die Akten vor Ablauf der Sechsmonatsfrist vorgelegt worden sind.
I.
1. Der Beschwerdeführer geriet in den Verdacht diverser Wirtschaftsstraftaten. Im Februar 2021 leitete die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein. Nach umfangreichen Ermittlungen erließ das Amtsgericht Frankfurt am Main am 14. Juni 2022 auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl. Außerdem ergingen Haftbefehle gegen zwei Tatgenossen des Beschwerdeführers. Am 30. Juni 2022 wurden der Beschwerdeführer und die beiden Tatgenossen verhaftet und die Haftbefehle in Vollzug gesetzt. Seither befindet sich der Beschwerdeführer ununterbrochen in Untersuchungshaft.
2. Mit Verfügung vom 13. Dezember 2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten über das Amtsgericht Frankfurt am Main und die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO und beantragte die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer und die beiden Tatgenossen. Die Übersendungsverfügung der Generalstaatsanwaltschaft datiert vom 27. Dezember 2022. Mit Schreiben vom 9. Januar 2023 nahm der Beschwerdeführer gegenüber dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main zur Übersendungsverfügung der Generalstaatsanwaltschaft Stellung und beantragte die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung unter Auflagen.
3. Mit Schreiben vom 29. März 2023 bat der Beschwerdeführer das Oberlandesgericht um Mitteilung, bis wann mit einer Entscheidung über seine Untersuchungshaft zu rechnen sei.
Das Oberlandesgericht teilte mit Schreiben vom Folgetag mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24. März 2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts eigener vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde.
II.
Die am 16. Juni 2023 beim Bundesverfassungsgericht eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im gesetzlichen Haftprüfungsverfahren. Zudem hat sich der Beschwerdeführer zunächst gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 14. Juni 2022 gewandt, dessen Aufhebung er beantragt hat. Weiter hat er die Verfassungsbeschwerde mit dem Antrag verbunden, im Wege der einstweiligen Anordnung den Haftbefehl aufzuheben. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 19 Abs. 4 GG.
Die andauernde Untätigkeit des Oberlandesgerichts, eine Entscheidung im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens gemäß §§ 121, 122 StPO zu treffen, verletze ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Sechsmonatsprüfung vor dem Oberlandesgericht sei eine zentrale verfahrensrechtliche Vorgabe, die dem Schutz des Freiheitsgrundrechts diene und das Grundrecht durch strikte Anforderungen an das Verfahren schütze. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts im Schreiben vom 30. März 2023 ließen erkennen, dass das Gericht nicht nur die Notwendigkeit der Einhaltung der Sechsmonatsfrist an sich, sondern auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs verkenne, indem es offenbar davon ausgehe, Krankheit, Urlaub und andere vordringlich zu bearbeitende Haftsachen seien zur Rechtfertigung der Verfahrensverzögerung geeignet.
Weiter verletze ihn die andauernde Untätigkeit des Oberlandesgerichts in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 GG fordere, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt werde. Die Effektivität des Rechtswegs im gesetzlichen Haftprüfungsverfahren sei bereits unmittelbar verletzt, wenn das vorgesehene Verfahren gemäß § 121 Abs. 2 StPO nicht beachtet werde. Sei eine Fortdauerentscheidung nach sechs Monaten der Untersuchungshaft ordnungsgemäß erfolgt, ordne § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO eine erneute Prüfung unter erhöhtem Begründungsaufwand nach weiteren drei Monaten an. Durch das Ruhen der Sechsmonatsfrist bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts gemäß § 121 Abs. 3 Satz 1 StPO werde der Anlauf einer neuen Frist verhindert. Dadurch werde ihm die Möglichkeit der gesetzlich vorgesehenen Neun- und der bei Einhalten der Verfahrensvorschriften bereits am 30. Juni 2023 anstehenden Zwölfmonatsprüfung genommen.
III.
1. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat nach Zustellung der Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 26. Juni 2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer und seine Tatgenossen angeordnet.
2. a) Mit Schreiben vom 28. Juni 2023 hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Der zuständige 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts sei durch die seit November 2022 währende, sich als langfristig herausstellende Erkrankung eines Beisitzers sowie die Erkrankung des Vorsitzenden vom 24. März 2023 bis 25. April 2023 erheblich belastet. Der ebenfalls mit Haftsachen befasste 2. Strafsenat sei wegen der längerfristigen nur teilweisen Dienstfähigkeit des dortigen Vorsitzenden nicht zur Entlastung des 1. Strafsenats in der Lage. Unter dem 25. Januar 2023 habe der Vorsitzende des 1. Strafsenats Überlastung angezeigt. Das Präsidium des Oberlandesgerichts habe daraufhin in seiner Sitzung vom 30. Januar 2023 beschlossen, dass zum 1. März 2023 vorübergehend eine zusätzliche Abordnungsstelle eingerichtet und dem 1. Strafsenat zugewiesen werde. Außerdem habe das Präsidium in seiner Sitzung vom 22. Mai 2023 dem 1. Strafsenat mit Wirkung zum 23. Mai 2023 weitere 0,25 Arbeitskraftanteile zugewiesen. Der eingangs erwähnte Beisitzer des 1. Strafsenats sei bis zum heutigen Tage erkrankt. Zudem sei eine weitere Beisitzerin im Zeitraum vom 8. Mai 2023 bis zum 2. Juni 2023 erkrankt gewesen, was zu einer massiven zusätzlichen Belastung des 1. Strafsenats geführt habe.
b) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat sich mit Zuschrift vom 28. Juni 2023 zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geäußert. Dieser stelle sich aufgrund der inzwischen vorliegenden Entscheidung des Oberlandesgerichts als überholt dar und könne nicht auf ein etwaig fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer verfassungsrechtlichen Überprüfung gestützt werden. Deshalb könne dahinstehen, ob der Haftbefehl des Amtsgerichts vom 14. Juni 2022 überhaupt als tauglicher Beschwerdegegenstand in Betracht komme und ob sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel einer Aufhebung dieses Haftbefehls auch deshalb als unzulässig darstellen könnte, weil damit nicht nur die...
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