Beschluss vom 23. März 2022 - 2 BvR 1514/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220323.2bvr151421 |
Judgement Number | 2 BvR 1514/21 |
Date | 23 Marzo 2022 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2022 - 2 BvR 1514/21 -, Rn. 1-70, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1514/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
-
(…) -
gegen |
a) |
die Verfügung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 26. August 2021 - 1 U 20/19 -, |
b) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 24. August 2021 - 1 U 20/19 - , |
|
c) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 16. August 2021 - 1 U 20/19 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 23. März 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 16. August 2021 - 1 U 20/19 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
- Die Sache wird an einen anderen Zivilsenat des Ober-landesgerichts Karlsruhe zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) Euro festgesetzt.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe als Berufungsbeklagter in einem zivilgerichtlichen Berufungsverfahren.
I.
1. Der 81 Jahre alte, grundsicherungsberechtigte Beschwerdeführer war bis zu einem Verkehrsunfall im Jahr 2013, bei dem er sich schwere Beinverletzungen zuzog, als Fliesenlegermeister in familieneigener und seit Ende 2014 insolventer GmbH tätig. Die GmbH beziehungsweise er selbst machten wegen dieses Verkehrsunfalls verschiedene Ansprüche gegen die Versicherung des Unfallgegners in mehreren Verfahren − (teilweise) unter Inanspruchnahme von gewährter Prozesskostenhilfe − geltend, in denen die GmbH beziehungsweise der Beschwerdeführer erstinstanzlich im Wesentlichen obsiegten. Zwei erstinstanzlich ergangene Urteile aus den Jahren 2016 und 2018 wurden – ohne dass die Versicherung Berufung einlegte – rechtskräftig.
2. Das Landgericht gewährte dem Beschwerdeführer für das streitgegenständliche Verfahren mit Beschluss vom 9. Mai 2016 Prozesskostenhilfe. Mit vorläufig vollstreckbarem Versäumnis- und Endurteil vom 23. Juni 2017 gab es der Klage des Beschwerdeführers weitestgehend statt. Im August 2017 erhielt er aufgrund dieses Versäumnis- und Endurteils von der Versicherung eine Summe in Höhe von 78.187,11 Euro. Mit Urteil vom 8. Januar 2019 gab das Landgericht seiner Klage insbesondere auf eine Verdienstausfallrente in Höhe von ca. 2.000,00 Euro monatlich ebenfalls weitestgehend statt.
3. Gegen den abweisenden Teil des Versäumnis- und Endurteils vom 23. Juni 2017 legte der Beschwerdeführer Berufung ein. Aufgrund der erhaltenen Zahlung der Versicherung aus dem Versäumnis- und Endurteil erklärte er den für dieses Berufungsverfahren gestellten Prozesskostenhilfeantrag für erledigt. Mit Urteil vom 30. Juli 2018 wies das Oberlandesgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück.
4. Gegen das erstinstanzliche Urteil vom 8. Januar 2019 legte die beklagte Versicherung die verfahrensgegenständliche Berufung zum Oberlandesgericht ein, welches dem Beschwerdeführer die beantragte Prozesskostenhilfe zunächst mit Beschluss vom 14. Mai 2020 mangels hinreichender Darlegung seiner Bedürftigkeit versagte. Wie er selbst mitgeteilt habe, sei ihm aufgrund des Versäumnisurteils ein Betrag von 78.187,11 Euro zugeflossen. Jedenfalls hinsichtlich eines Betrags in Höhe von 18.332,07 Euro habe er aber nicht nachvollziehbar dargetan, wozu dieser von ihm verwendet worden sei. Er habe lediglich pauschal mitgeteilt, dass dieser Betrag im Rahmen seines „allgemeinen Lebensunterhalts“ verbraucht worden sei, er keine Belege aufbewahrt habe und dazu keine weiteren Angaben machen könne. Auch die vom Beschwerdeführer abgegebene Versicherung an Eides statt ermögliche dem Gericht die vorzunehmende Prüfung des Einsatzes der Gelder nicht. Selbst nach Abzug des insoweit zu berücksichtigenden Schonvermögens in Höhe von 5.000,00 Euro nach § 115 Abs. 3 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO), § 90 Abs. 2 Nr. 9 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in Verbindung mit § 1 Nr. 1 Verordnung zur Durchführung (DurchführungsVO) zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII reiche der Betrag für die Prozesskosten des zweiten Rechtszugs aus. Die vom Beschwerdeführer bislang nicht realisierte Absicht, das Geld für eine Alterssicherung einzusetzen, sei ebenfalls nicht ausreichend. Offenbleiben könne trotz erheblicher Zweifel daher, ob und inwieweit hinsichtlich der geltend gemachten Bedienung von Schulden jeweils hinreichende Umstände dargetan seien, die einen hinsichtlich jeder Ausgabe festzustellenden Vorrang gegenüber der Verpflichtung, die Allgemeinheit nicht ohne Grund in Anspruch zu nehmen, tragen. Vor allem in Bezug auf die Aufwendungen für „Lager Miete“ in Höhe von 15.529,50 Euro fehlten tragfähige Angaben. Keiner Prüfung zugänglich seien ebenfalls die pauschalen Angaben zu den beglichenen Anwaltshonoraren in Höhe von weiteren 11.913,34 Euro.
5. In seiner Gegenvorstellung vom 15. Mai 2020 machte der Beschwerdeführer geltend, aus seinem ehemaligen Erwerbsgeschäft noch Gegenstände einlagern zu müssen, was eine monatliche Lagermiete von 535,50 Euro in Anspruch nehme. Die entsprechenden Quittungen seit der Auszahlung der 78.187,11 Euro seien einem vorangegangenen Schriftsatz beigefügt gewesen und würden zur Sicherheit nochmals beigelegt. Zudem versichere der Prozessbevollmächtigte nochmals, dass der für Anwaltshonorare einbehaltene Betrag mit Kosten aufgrund anderweitig für den Beschwerdeführer geführter Mandate verrechnet worden und ihm deshalb nie persönlich zugeflossen sei. Hinsichtlich der 18.332,07 Euro seien die Angaben in der vom Beschwerdeführer abgegebenen eidesstattlichen Versicherung aufgrund seiner prekären Vermögenssituation plausibel, der Betrag sei in den letzten drei Jahren sukzessive verbraucht worden, es entspreche einem durchschnittlichen monatlichen Verbrauch von etwa 570 Euro. Weitere Belege hierzu könne der Beschwerdeführer nicht vorlegen. Er verfüge über geringe Renteneinnahmen in Höhe von 519,71 Euro. Allein seine Mietkosten beliefen sich auf 497,00 Euro monatlich und er erhalte Grundsicherung. Die Anforderungen an die Darlegung der Bedürftigkeit dürften nicht überspannt werden.
6. Das Oberlandesgericht hielt an der Ablehnung der Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 25. Mai 2020 fest. Ein sachlicher Grund für die monatliche Zahlung einer Lagermiete für Gegenstände der ehemaligen GmbH in Höhe von 535,50 Euro seit November 2016 sei nicht erkennbar, zumal der Beschwerdeführer nach eigenem Vorbringen seit dem Unfall im Dezember 2013 nicht mehr arbeitsfähig und die ehemalige GmbH eigentliche Schuldnerin der Mietkosten gewesen sei. Im Übrigen fehlten insbesondere hinsichtlich der geltend gemachten Begleichung von Anwaltshonoraren in Höhe von insgesamt 11.913,34 Euro wie auch der Verwendung der 18.332,07 Euro für allgemeine Lebenshaltung nachvollziehbare Angaben für eine Prüfung durch das Gericht. Die Behauptung eines theoretisch plausiblen, aber nicht weiter konkretisierten Durchschnittsverbrauchs reiche nicht aus.
7. Mit Urteil vom 18. Mai 2020 hob das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts vom 8. Januar 2019 sowie das (Teil-)Versäumnisurteil vom 23. Juni 2017 auf und wies die Klage ab.
8. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin mit Schriftsatz vom 23. Juni 2020 Prozesskostenhilfe beim Bundesgerichtshof zur Durchführung einer Nichtzulassungsbeschwerde. Er wurde dabei durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten, der – wie schon im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht im Vorfeld des Urteils vom 18. Mai 2020 – ohne Kostensicherung tätig wurde. Hier erklärte der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen unter anderem, „getrennt-verheiratet“ und nicht rechtsschutzversichert zu sein, keine Unterhaltsansprüche gegen dritte Personen zu haben, außer einer Rente in Höhe von 537,46 Euro keine Einnahmen zu beziehen und ergänzende Grundsicherung in Höhe von 363,64 Euro zu erhalten. Auch seine Ehefrau habe keinerlei Einnahmen. Auf seinem Konto befänden sich 277,49 Euro, sein Auto habe einen Verkehrswert von 1.500,00 Euro, er habe Geschäftsanteile im Wert von 250,00 Euro. Seine Wohnkosten beliefen sich auf insgesamt 497,00 Euro; er zahle Schulden in Raten von monatlich zwei Mal 100,00 Euro zurück. Eine Entsorgung der in der angemieteten Halle untergebrachten Maschinen sei teurer als die Mietkosten.
9. Mit Schreiben vom 7. Juli 2020 bat der Bundesgerichtshof um Vorlage der Auszüge sämtlicher Konten für den Zeitraum vom 1. April 2020 bis 30. Juni 2020 sowie Vorlage eines Kontoauszugs, aus welchem hervorgehe, dass und wann die genannten 78.187,11 Euro dem Vermögen des Klägers zugeflossen seien. Ferner wurde um Erläuterung von Schulden beim Landratsamt gebeten. Mit...
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