Beschluss vom 23. Oktober 2018 - 2 BvR 1050/17
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2018:rk20181023.2bvr105017 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Oktober 2018 - 2 BvR 1050/17 - Rn. (1-18), |
Date | 23 Octubre 2018 |
Judgement Number | 2 BvR 1050/17 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1050/17 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M ... , |
- Bevollmächtigte:
-
Rechtsanwältinnen Cornelia Ganten-Lange & Erna Hepp,
Bahrenfelder Straße 321, 22765 Hamburg -
gegen |
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 9. März 2017 - 16 A 7372/16 - |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
am 23. Oktober 2018 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 9. März 2017 - 16 A 7372/16 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes
- Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht Hamburg zurückverwiesen
- Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem asylrechtlichen Verfahren.
1. Der 61-jährige Beschwerdeführer ist staatenloser Palästinenser mit gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien. Er reiste am 3. September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 10. Februar 2016 einen Asylantrag stellte. Diesen begründete er in der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) damit, dass er in der Zeit von 1978-1981 bei der palästinensischen Befreiungsarmee Wehrdienst geleistet habe. Im Jahr 2013 sei sein Haus durch einen Bombenangriff im Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen syrischen Regierungstruppen und verschiedenen islamistischen Gruppen zerstört worden.
Mit Bescheid vom 20. Juni 2016 erkannte das Bundesamt dem Beschwerdeführer subsidiären Schutz zu und lehnte seinen Asylantrag im Übrigen ab.
2. a) Hiergegen erhob der Beschwerdeführer am 18. Juli 2016 Klage beim Verwaltungsgericht Hamburg, mit der er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrte. Zudem beantragte er, ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren. Die Prozesskostenhilfeunterlagen lagen dem Verwaltungsgericht am 19. Juli 2016 vor. Zur Begründung seiner Klage machte er geltend, dass die palästinensische Befreiungsarmee, in der er Wehrdienst geleistet habe, faktisch durch den syrischen Staat kontrolliert worden sei. Er selbst habe keiner der Parteien im syrischen Bürgerkrieg angehört.
b) Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 9. März 2017 ab. Der Beschwerdeführer sei nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Ihm drohe als syrischer Staatsangehöriger bei einer Rückkehr nach Syrien auch keine Verfolgung aufgrund seiner illegalen Ausreise, seiner Asylantragstellung im Ausland und seines längeren Auslandsaufenthalts. Hierzu stützte sich das Verwaltungsgericht auf die zwischenzeitlich überwiegend vertretene Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung (OVG NRW, Urteil vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A -; OVG des Saarlands, Urteil vom 2. Februar 2017 - 2 A 515/16 -; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23. November 2016 - 3 LB 17/16 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 -; BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 - 21 ZB 16.30338 -; entgegen Hessischer VGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris), dass unverfolgt ausgereisten Syrern nicht allein aufgrund ihrer Asylantragstellung im Ausland politische Verfolgung drohe. Ende 2015 seien von den zuvor in Syrien lebenden 22 Millionen Menschen 4,9 Millionen aus dem Land geflohen. Angesichts dieser Zahlen gebe es keine hinreichenden tatsächlichen Erkenntnisse, dass weiterhin alle ins Ausland ausgereisten Syrer als potentielle Oppositionelle angesehen würden. Aktuelle Erkenntnismittel ergäben keine ausreichenden Hinweise für systematische Rückkehrerbefragungen unter Anwendung von Folter. Gegen systematische Folter spreche auch die hohe Zahl freiwilliger Rückkehrer nach Syrien aus Jordanien und insbesondere der Türkei. Der Umstand, dass der syrische Staat von Januar bis November 2015 800.000 neue Pässe ausgegeben habe, spreche ebenfalls gegen eine drohende Verfolgung bei einer Rückkehr nach Syrien. Der Beschwerdeführer habe sich bei seiner Ausreise aus Syrien auch nicht dem Wehrdienst entzogen. Damals habe er aufgrund...
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