Beschluss vom 24. Februar 2023 - 2 BvR 117/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230224.2bvr011720 |
Date | 24 Febrero 2023 |
Judgement Number | 2 BvR 117/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 117/20 -
- 2 BvR 962/21 -
über
die Verfassungsbeschwerden
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
- (…) -
gegen |
1. a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz |
b) |
den Beschluss des Landgerichts Koblenz |
- 2 BvR 117/20 -,
gegen |
2. a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz |
b) |
den Beschluss des Landgerichts Koblenz |
- 2 BvR 962/21 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Müller
und die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
am 24. Februar 2023 einstimmig beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden
- Der Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 17. Mai 2019 - 7a StVK 55/18 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 9. Dezember 2019 - 2 Ws 474/19 - sowie der Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 22. Januar 2021 - 7a StVK 58/20 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 2021 - 2 Ws 162/21 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes
- Die Beschlüsse des Landgerichts Koblenz vom 22. Januar 2021 - 7a StVK 58/20 - und des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 2021 - 2 Ws 162/21 - werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Koblenz zur erneuten Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe zurückverwiesen
- Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.
A.
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden betreffen die abgelehnte Strafaussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung gemäß § 57a Abs. 1 StGB.
I.
1. a) Der am (…) 1944 geborene Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Mainz vom 19. Juli 1972 wegen Mordes in zwei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der vor den Mordtaten jahrelang als Voyeur aktive Beschwerdeführer war in der Nacht zum (…) 1970 in Mainz in ein Wohnhaus eingestiegen, um mit der Tochter des Hauses geschlechtlich zu verkehren. Als die Mutter des Mädchens in ihrem Schlafzimmer erwachte, tötete er sie mit einem mitgeführten Messer. Anschließend drang er in das Schlafzimmer der Tochter ein. Als diese sein Begehren zurückwies und um Hilfe schrie, brachte der sexuell stark erregte Beschwerdeführer sie ebenfalls mit dem mitgeführten Messer um. Der gerichtlich bestellte psychiatrische Sachverständige attestierte dem Beschwerdeführer eine Kombination aus Voyeurismus und Exhibitionismus mit einer stark ausgebildeten aggressiven Komponente. Nachdem der Beschwerdeführer zunächst die Tat vor der Polizei und dem Ermittlungsrichter eingeräumt hatte, widerrief er in der Folgezeit sein Geständnis.
b) Der Beschwerdeführer befand sich seit dem 21. Juni 1970 in Untersuchungshaft und sodann in Strafhaft. Mit Beschluss vom 10. November 1997 stellte das Landgericht Koblenz fest, dass die besondere Schwere der Schuld des Beschwerdeführers die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete. Eine Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung lehnte es gleichwohl ab, da eine günstige Prognose nicht gestellt werden könne.
c) In den ersten Jahren des Vollzugs verhielt sich der Beschwerdeführer beanstandungsfrei. Im Jahr 1989 wurde er wegen des Besitzes eines Fernglases erstmals disziplinarisch negativ erwähnt. Ab September 1991 befand er sich im offenen Vollzug. 1992 wurden ihm mehrere Hafturlaube gewährt. Im selben Jahr führte ein erneuter Regelverstoß – es wurden zehn bis zwölf Pornohefte, zum Teil mit sogenannter Hardcore-Pornographie, unter seiner Matratze gefunden – zu dessen Beendigung. Im Jahr 1995 war er zunächst wieder Freigänger, bevor er im selben Jahr eine eigene Wohnung bezog.
d) Am 21. Juni 2002 wurde der Beschwerdeführer in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt, nachdem bei einer Durchsuchung seiner Wohnung unerlaubte Gegenstände (30 kommerzielle Pornovideokassetten, deutlich über 300 Pornohefte, eine Kiste mit pornographischen Darstellungen, Damenunterwäsche, 8 Rollen Klebeband, 51 Kabelbinder, 28 Paar Stoffhandschuhe, ein Fernglas, etwa 100 ausgeschnittene Köpfe von Frauen aus Zeitschriften und selbst angefertigte Pornographien sowie 150 selbst aufgenommene Videokassetten mit zum Teil [soft-]pornographischen Filmen) gefunden worden waren.
e) Am 26. Juli 2011 wurde der Beschwerdeführer für ein knappes Jahr zurück in den offenen Vollzug verlegt. Nach erneutem Auffinden mehrerer DVDs mit pornographischen Inhalten, größerer Geldbeträge, 18 verschiedener Versionen von Schnüren und einer Digitalkamera im Staufach seines Motorrollers wurde er im Mai 2012 in den geschlossenen Vollzug rückverlegt. Seit dem 28. März 2017 befindet sich der Beschwerdeführer erneut im offenen Vollzug. Zwei gewährte Langzeitausgänge absolvierte er beanstandungsfrei.
2. a) Der Sachverständige (…) kam in seinem Gutachten am 22. Februar 2019 zu dem Ergebnis, dass beim Beschwerdeführer psychosexuelle Auffälligkeiten in Form intensiver sexuell devianter Interessen, Phantasien und Impulse sowie eines gesteigerten sexuellen Verlangens festzustellen seien. Nach seiner Einschätzung liege das wesentliche Risiko beim Beschwerdeführer nahezu ausschließlich im Bereich der Sexualdelinquenz.
b) Eine inhaltlich sinnvolle Exploration der Tatvorwürfe habe nicht stattfinden können, weil der Beschwerdeführer die Anlasstaten leugne und nicht in der Lage und/oder Willens gewesen sei, über innere Vorgänge Auskunft zu geben. Bei der Einschätzung des Rückfallrisikos sei der Sachverständige auf empirische Erkenntnisse angewiesen gewesen, die im konkreten Fall jedoch wenig Aussagekraft besessen hätten. Die individuell angepasste Risikoeinschätzung gestalte sich schwierig, weil der Beschwerdeführer keine diagnostisch und prognostisch verwertbaren Informationen zur Verfügung gestellt habe.
c) Im Ergebnis nahm der Sachverständige an, dass der Beschwerdeführer nicht zu einer Hoch-Risiko-Gruppe zu zählen sei. Ein mit dem Begriff des „Restrisikos“ zu beschreibendes Gefährdungspotential sei niemals auszuschließen; dieses sei aber vergleichsweise niedrig. Eine weitere Abnahme des Rückfallrisikos durch intramurale Maßnahmen sei kaum vorstellbar. Der Widerrufsdruck bei einer Entlassung zur Bewährung könne präventiv wirken, da der Beschwerdeführer kein impulsiv handelnder Straftäter sei. Das Restrisiko weiterer Sexualstraftaten könne durch geeignete Weisungen weiter reduziert werden. In Betracht zu ziehen seien eine langfristige und regelmäßige sozialarbeiterische Betreuung, die auch eine kontrollierende Funktion zu erfüllen habe, die Untersagung jeglichen voyeuristischen Verhaltens und des Besitzes von Gegenständen, die für voyeuristische Zwecke eingesetzt werden könnten sowie eine regelmäßige dahingehende Untersuchung seiner Wohnräume.
3. In dem Verfahren 2 BvR 117/20 greift der Beschwerdeführer den Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 17. Mai 2019 und den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 9. Dezember 2019 an.
a) Mit Beschluss vom 17. Mai 2019 lehnte das Landgericht Koblenz den Antrag auf Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach der Einholung des vorgenannten Sachverständigengutachtens von (…) vom 22. Februar 2019 und der Anhörung des Beschwerdeführers am 3. Mai 2019 ab. Es bestehe eine geringe Gefahr, dass der Beschwerdeführer künftig den Anlasstaten vergleichbare Verbrechen begehen werde. Verbleibende Zweifel hinsichtlich einer günstigen Prognose gingen zu seinen Lasten.
Der Beschwerdeführer sei bei seinen Anlasstaten als besonders dranghafter und rücksichtsloser Sexualstraftäter aufgetreten. Diese Dranghaftigkeit sei auch während der Inhaftierung immer wieder zum Vorschein gekommen. Alle Regelverstöße während der Inhaftierung hätten im Zusammenhang mit seiner Sexualität gestanden. Die Kammer sei sich bewusst, dass sich ein gewisses Gefährdungspotential nie vollständig ausschließen lasse. Beim Beschwerdeführer sehe sie aber erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass ein nicht unerhebliches Risiko der Begehung von den Anlassdelikten vergleichbaren Taten fortbestehe, welches sich nicht durch geeignete Weisungen auffangen lasse.
Danach komme eine bedingte Entlassung nicht in Betracht. Der Beschwerdeführer sei aufgrund seiner rigiden Verweigerungshaltung in Bezug auf die sexuelle Devianz nicht hinreichend einschätzbar. Es liege allein an seiner Person, dass eine – zumindest geringe – Gefahr künftiger vergleichbarer Verbrechen angenommen werden müsse. Die Vollzugsanstalt werde dem Beschwerdeführer weitere Lockerungen gewähren müssen, um zu prüfen, ob er sich bei Gewährung weiterer Freiräume zuverlässig zeige. In der Vergangenheit sei der Beschwerdeführer regelmäßig erst nach längerer Zeit durch Regelverstöße aufgefallen. Daher sei...
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