Beschluss vom 25. Mai 2022 - 2 BvE 10/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:es20220525.2bve001021 |
Date | 25 Mayo 2022 |
Judgement Number | 2 BvE 10/21 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. Mai 2022 - 2 BvE 10/21 -, Rn. 1-53, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 10/21 -
über
den Antrag festzustellen,
dass die Antragsgegner dadurch gegen die Rechte der Antragstellerin aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes − Recht auf Gleichbehandlung als Fraktion sowie Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages − und gegen deren aus dem Rechtsstaatsprinzip, Artikel 20 Absatz 2 Satz 2, Absatz 3 des Grundgesetzes folgendes Recht auf effektive Opposition verstoßen haben, dass sie den von der Antragstellerin für die Ausschüsse, für die ihr aufgrund des Zugreifverfahrens das Benennungsrecht zusteht, benannten Ausschussvorsitzenden im Wege der Veranstaltung einer ungebundenen Mehrheitswahl den Amtsantritt verweigert haben |
Antragstellerin: |
AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
Antragsgegner: |
1. |
Deutscher Bundestag, |
2. |
Ausschuss für Inneres und Heimat |
|
3. |
Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages, |
|
4. |
Ausschuss für wirtschaftliche |
|
5. |
Präsidentin des Deutschen |
|
6. |
Präsidium des Deutschen Bundestages, |
|
Platz der Republik 1, 11011 Berlin, |
- Bevollmächtigte:
-
(…) -
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein
am 25. Mai 2022 beschlossen:
- Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt
A.
Die Antragstellerin wendet sich in der Hauptsache im Wege des Organstreits gegen die Durchführung von Wahlen zur Bestimmung der Vorsitzenden der Ausschüsse für Inneres und Heimat (im Folgenden: Innenausschuss), Gesundheit sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im Folgenden: Entwicklungsausschuss) im Deutschen Bundestag, bei denen die von ihr vorgeschlagenen Kandidaten jeweils nicht die erforderliche Mehrheit erreicht haben. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt sie, die von ihr benannten Kandidaten vorläufig als Ausschussvorsitzende einzusetzen.
I.
1. Nachdem sich die Fraktionen des 20. Deutschen Bundestages zu Beginn der Wahlperiode im Ältestenrat nicht auf die Verteilung der Ausschussvorsitze verständigen konnten, wurden diese unter den Fraktionen im sogenannten Zugriffsverfahren verteilt. Die Antragstellerin griff im Rahmen dieses Verfahrens auf die Vorsitze des Innenausschusses, des Gesundheitsausschusses und des Entwicklungsausschusses zu. In den konstituierenden Sitzungen dieser drei Ausschüsse am 15. Dezember 2021 benannte die Antragstellerin als Kandidaten für die Ausschussvorsitze den Abgeordneten Hess im Innenausschuss, den Abgeordneten Schneider im Gesundheitsausschuss sowie den Abgeordneten Friedhoff im Entwicklungsausschuss. Auf Antrag der Regierungsfraktionen wurden daraufhin in den drei Ausschüssen geheime Wahlen zur Bestimmung der Ausschussvorsitzenden durchgeführt; bei diesen Wahlen erhielt keiner der von der Antragstellerin benannten Kandidaten die erforderliche Mehrheit (vgl. die Kurzmeldungen „heute im bundestag“ vom 15. Dezember 2021, abrufbar unter www.bundestag.de/inneres, www.bundestag.de/ gesundheit und www.bundestag.de/entwicklung).
2. In der Sitzung des Innenausschusses am 12. Januar 2022 verfehlte der von der Antragstellerin benannte Kandidat, der Abgeordnete Hess, bei einer erneuten geheimen Wahl wiederum die erforderliche Mehrheit; im Anschluss wählte der Innenausschuss einen Abgeordneten der SPD-Fraktion zum stellvertretenden Vorsitzenden (vgl. die Kurzmeldung „heute im bundestag“ vom 12. Januar 2022, abrufbar unter www.bundestag.de/inneres).
Im Gesundheitsausschuss erzielte der von der Antragstellerin benannte Kandidat, der Abgeordnete Schneider, bei der erneut durchgeführten geheimen Wahl am 12. Januar 2022 ebenfalls keine Mehrheit; daneben wählte der Ausschuss eine Abgeordnete der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur stellvertretenden Vorsitzenden (vgl. die Kurzmeldung „heute im bundestag“ vom 12. Januar 2022, abrufbar unter www.bundestag.de/gesundheit).
Auch bei der Wahl im Entwicklungsausschuss am 12. Januar 2022 erreichte der von der Antragstellerin benannte Kandidat, der Abgeordnete Friedhoff, abermals keine Mehrheit. Zudem wählte der Ausschuss einen Abgeordneten der FDP-Fraktion zum stellvertretenden Vorsitzenden (vgl. die Kurzmeldung „heute im bundestag“ vom 12. Januar 2022, abrufbar unter www.bundestag.de/entwicklung).
3. Die Vorsitze der drei betroffenen Ausschüsse wurden bisher noch nicht besetzt. Aktuell werden die Ausschüsse von den stellvertretenden Vorsitzenden geleitet.
II.
1. Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 31. Dezember 2021 das Organstreitverfahren eingeleitet und darüber hinaus den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie sieht sich durch die „Veranstaltung einer ungebundenen Mehrheitswahl“ zur Besetzung der ihr zustehenden Ausschussvorsitze in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Gleichbehandlung und auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sowie in einem aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG, folgenden Recht auf effektive Opposition verletzt.
a) Das Organstreitverfahren sei in der Hauptsache zulässig. Die Antragstellerin sei antragsbefugt, weil der von ihr vorgetragene Sachverhalt eine Verletzung der genannten verfassungsmäßigen Rechte zumindest als möglich erscheinen lasse. Die von ihr angegriffenen geheimen Wahlen stellten Maßnahmen der betreffenden Ausschüsse sowie der Präsidentin und des Präsidiums des Deutschen Bundestages dar, da im Präsidium eine entsprechende Vereinbarung getroffen worden sei. Die Handlungen dieser Teilorgane seien dem Deutschen Bundestag zuzurechnen. Möglichkeiten der Abhilfe außerhalb des Organstreitverfahrens bestünden nicht. Es liege kein Anhaltspunkt dafür vor, dass die Parlamentsmehrheit ihre Rechtsauffassung seit der Plenarentscheidung gemäß § 127 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) in der Sache „Ausschussvorsitz Brandner“ geändert habe. In dieser Entscheidung habe sich der Deutsche Bundestag die Interpretation des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu eigen gemacht, dass Ausschussvorsitzende durch Mehrheitsentscheidung der Ausschussmitglieder gewählt und abgewählt werden könnten. Schließlich sei der Antragstellerin die Präsentation weiterer Kandidaten nicht zumutbar und eine Lösung durch den Ältestenrat weder zu erwarten noch zu leisten.
b) Das Organstreitverfahren sei in der Hauptsache auch begründet.
Die Fraktionen hätten wegen ihrer Bedeutung für parlamentarische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse ein Recht auf einen spiegelbildlichen Zugang zu den Beratungen in den Ausschüssen und ähnlichen Gremien. Die Fachausschüsse übernähmen die fachliche Arbeit sowie die Informations-, Kontroll- und Untersuchungsaufgaben des Parlaments. Dafür, dass die hohe Bedeutung der Ausschussarbeit den Fraktionen nicht nur einen geschäftsordnungsmäßigen, sondern auch einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf die spiegelbildliche Beteiligung an den Vorsitzendenpositionen der Fachausschüsse gewähre, spreche, dass ansonsten eine Wahrnehmung der Minderheitenrechte und der Kontrollaufgaben der Opposition nicht effektiv erfolgen könne. Dies gelte auch für die verfassungsrechtlich geforderte Chance der Minderheit, zur Mehrheit zu werden. Ein Ausschussvorsitzender könne definitionsgemäß nicht Repräsentant des gesamten Ausschusses sein, weil er oft der Minderheit angehöre, was gerade beabsichtigt sei. Der Minderheitenschutz könnte willkürlich durchbrochen werden, wenn die Mehrheit in einem Ausschuss einen von der Minderheitenfraktion Entsandten einfach „nicht wählen“ oder „abwählen“ könnte. Bei fehlender Einigung der Fraktionen im Ältestenrat über die Verteilung der Ausschussvorsitze komme das Zugreifverfahren und nicht das Prinzip der Wahl zum Zuge. Die Bestimmungen der Geschäftsordnung seien bei den beanstandeten Maßnahmen nicht gleichmäßig, fair und loyal angewendet worden.
Selbst wenn ein Rechtfertigungsgrund für die Durchbrechung der Grundsätze der Gleichbehandlung der Fraktionen und der effektiven Opposition anerkannt würde, müssten die einander gegenüberstehenden Verfassungswerte in einer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechenden Art und Weise zu einem Ausgleich gebracht werden. Dies stehe der Anwendung der Mehrheitsregel bei der Bestimmung der Ausschussvorsitzenden entgegen.
2. Mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt die Antragstellerin die vorläufige Einsetzung der von ihr benannten Kandidaten in die Rechte und Pflichten als...
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