Beschluss vom 27. Januar 2022 - 2 BvR 1214/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220127.2bvr121421 |
Date | 27 Enero 2022 |
Judgement Number | 2 BvR 1214/21 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 2022 - 2 BvR 1214/21 -, Rn. 1-71, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1214/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
-
Rechtsanwalt Dirk Heeling
in Sozietät Rechtsanwälte Kunz & Kollegen,
Bahnhofstraße 89/91, 66111 Saarbrücken -
gegen |
a) den Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 16. August 2021 - OLG Ausl (A) 44/2018 -, |
|
b) den Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts |
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vom 5. Juli 2021 - OLG Ausl (A) 44/2018 -, |
||
c) den Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts |
||
vom 16. Juni 2021 - OLG Ausl (A) 44/2018 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 27. Januar 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 16. Juni 2021 - OLG Ausl (A) 44/2018 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde; er wird in diesem Umfang aufgehoben.
- Die Sache wird insoweit an das Saarländische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
- Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 5. Juli 2021 - OLG Ausl (A) 44/2018 - wird damit gegenstandslos.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Saarland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) Euro festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Überstellung des Beschwerdeführers, eines rumänischen Staatsangehörigen, zur Strafvollstreckung nach Rumänien.
I.
1. Am 19. Juni 2013 wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des Amtsgerichts Racari (Rumänien), rechtskräftig durch Strafbescheid des Berufungsgerichts Ploiesti (Rumänien) vom 31. Januar 2014, wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Verweigerung einer Blutprobe zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt, die noch vollständig zu verbüßen ist. Am 12. März 2014 erließ das Amtsgericht Racari diesbezüglich einen Europäischen Haftbefehl.
2. Nach seiner Festnahme am 3. März 2021 erklärte der Beschwerdeführer im Rahmen seiner richterlichen Anhörung am 4. März 2021, mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden zu sein und auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes nicht zu verzichten.
3. Die Generalstaatsanwaltschaft bat die rumänischen Behörden mit Schreiben vom 4. März 2021, mitzuteilen, in welcher Haftanstalt der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung untergebracht werden wird, wie dort die Haftbedingungen im Einzelnen sind und ob in der Haftanstalt Besuche durch diplomatische Vertreter Deutschlands möglich sind. Ferner wurden die rumänischen Behörden gebeten, zuzusichern, dass die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen den europäischen Mindeststandards entsprechen und dem Beschwerdeführer keine unmenschlichen oder erniedrigenden Strafen oder Behandlungen drohen.
4. Mit Beschluss vom 8. März 2021 ordnete das Saarländische Oberlandesgericht die Auslieferungshaft an. Der Auslieferung stünden keine Umstände entgegen, die diese von vornherein unzulässig erscheinen ließen. Soweit Erkenntnisse auf systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen hindeuteten, seien die von der Generalstaatsanwaltschaft angeforderten Informationen abzuwarten und zu prüfen, ob der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung Verstöße gegen Art. 4 GRCh zu befürchten habe.
5. Die rumänischen Behörden legten mit Schreiben der nationalen Verwaltung der Strafvollzugsanstalten an das Amtsgericht Racari vom 12. März 2021 dar, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung zunächst für 21 Tage in der Haftanstalt Rahova in einem Zimmer mit mindestens 3 m² persönlichem Mindestfreiraum untergebracht werde. Ihm stünden alle Rechte zu, die er „nach dem Vollzugsgesetz“ in Anspruch nehmen könne. Die Unterbringung erfolge in getrennten Räumen nach Geschlecht und Alter sowie sonstigen sicherheitstechnischen Vorschriften.
Nach Ablauf der Quarantänezeit bestimme die nationale Verwaltung der Strafvollzugsanstalten, in welcher Haftanstalt der Beschwerdeführer seine Haftstrafe verbüßen werde. Wegen seines Wohnsitzes werde er diese „höchstwahrscheinlich“ zuerst im geschlossenen Vollzug in der Haftanstalt Margineni verbringen. Die Hafträume verfügten über natürliches und künstliches Licht, ausreichende Belüftung, Einrichtungen zur Einnahme von Mahlzeiten und eigene sanitäre Anlagen mit ständigem Zugang zu kaltem Trinkwasser. Es stehe ein Zugang zu Freiganghöfen, zum „Club“, zur Kirche und ein Raum zur Ausübung von Rechten (Telefonate, Arztbesuche, Antragstellungen etc.) zur Verfügung. Es folgte eine Aufzählung einiger Merkmale des geschlossenen Vollzugs, unter anderem wären Aktivitäten für mindestens vier Stunden täglich vorgesehen, zudem bestehe jedenfalls für drei Stunden täglich die Möglichkeit zum Spaziergang. Nach Verbüßung eines Fünftels der Strafe werde der Beschwerdeführer im Hinblick auf eine Änderung der Vollzugsart überprüft, wobei die Entwicklung nicht vorhergesagt werden könne.
Sofern der Beschwerdeführer anschließend in den halboffenen Vollzug verlegt werde, werde er höchstwahrscheinlich in die Haftanstalt Mioveni verlegt. Jeder Haftraum verfüge neben dem Unterbringungsraum, der mit Betten ausgestattet sei, über einen weiteren Vorratsraum mit Regalen für Lebensmittel sowie ein Badezimmer. Es gebe Fenster in allen Räumen. Hygienemaßnahmen würden regelmäßig durchgeführt. Die Verwaltung jeder Vollzugsanstalt sorge für angemessene Bedingungen betreffend die Speisen. Die Türen der Zimmer stünden den ganzen Tag offen, Zugang zu den Freiganghöfen gebe es nach einem genehmigten Zeitplan. Auf den Fluren gebe es die Möglichkeit zur Telefonie, es könnten täglich zehn Telefonate von insgesamt maximal sechzig Minuten geführt werden. Besuche könnten fünf Mal im Monat für maximal zwei Stunden stattfinden.
Falls der Beschwerdeführer in den offenen Vollzug komme, werde er höchstwahrscheinlich in die Haftanstalt Gaesti verlegt. Die Hafträume böten ein Bett, Möbel für das Essen und für persönliche Gegenstände. Außerdem gebe es ausreichende Belüftung, Temperaturregelung und Beleuchtung. Fließendes Wasser und Sanitäreinrichtungen stünden stets zur Verfügung. Für Hygienemaßnahmen und die Essensversorgung sowie für Telefonie und Besuche würden die gleichen Bedingungen wie im halboffenen Vollzug gelten. Es gebe die Möglichkeit zu Spaziergängen im Freien. Die Zimmertüren seien außer zum Essen oder bei administrativen Tätigkeiten immer geöffnet, es bestehe uneingeschränkter Zugang zu den Freiganghöfen.
Im letzten Absatz des Schreibens wurde ausgeführt, dass die nationale Verwaltung der Strafvollzugsanstalten in Umsetzung von Pilotentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die gesamte Dauer des Strafvollzugs einen Mindestraum von 3 m² einschließlich des Bettes und der dazugehörigen Möbel, ohne den Raum für die Sanitäreinheit, zur Verfügung stelle.
6. Am 24. März 2021 entschied die Generalstaatsanwaltschaft, dass nicht beabsichtigt sei, Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG geltend zu machen.
7. Mit Schriftsatz vom 9. April 2021 machte der Beschwerdeführer unter anderem geltend, Rumänien sei nicht allen Aufforderungen der Generalstaatsanwaltschaft aus dem Schreiben vom 4. März 2021 nachgekommen. Die erbetene Mitteilung zu Besuchen durch diplomatische oder konsularische Vertreter Deutschlands sei nicht erfolgt. Er werde nach den Angaben der rumänischen Behörden auch nur „höchstwahrscheinlich“ in den angegebenen Haftanstalten untergebracht. Dies lasse den Schluss zu, dass von systemischen und allgemeinen Mängeln bei den Haftbedingungen auszugehen sei. Die Beschreibungen der Haftbedingungen seien pauschal und allgemein gehalten, es seien keine konkreten Angaben über individuelle Hafträume im geschlossenen Vollzug gemacht worden. Bei der Angabe zur Haftraumfläche werde diese zwar mit 3 m² garantiert, man erfahre aber nicht, ob es sich um die individuelle Fläche handele und ob eine Sanitäreinheit überhaupt zur Verfügung gestellt werde.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könne ein persönlicher Raum in einer Gemeinschaftszelle von unter 3 m² einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzuträten. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Bislang habe sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht zu den Mindeststandards bei einer Unterbringung in einer Einzel- oder Doppelzelle geäußert. Es sei auch nicht entschieden, ob ein Zeitraum von 21 Tagen noch eine „kurze Unterschreitung“ darstelle. Es bestehe eine starke Vermutung für eine Verletzung von Art. 3 EMRK beziehungsweise Art. 4 GRCh, wenn der zur Verfügung stehende Raum in einer...
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Beschluss vom 30. März 2022 - 2 BvR 2069/21
...Nordrhein-Westfalen in vollem Umfang aufzuerlegen waren (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 2022 - 2 BvR 1214/21 -, Rn. 70 m.w.N.). Die Festsetzung des Gegenstandswerts für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in V......
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Beschluss vom 30. März 2022 - 2 BvR 2069/21
...Nordrhein-Westfalen in vollem Umfang aufzuerlegen waren (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 2022 - 2 BvR 1214/21 -, Rn. 70 m.w.N.). Die Festsetzung des Gegenstandswerts für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in V......