Beschluss vom 27. Mai 2020 - 2 BvR 1809/17
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200527.2bvr180917 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Mai 2020 - 2 BvR 1809/17 -, Rn. 1-34, |
Date | 27 Mayo 2020 |
Judgement Number | 2 BvR 1809/17 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1809/17 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Z…, |
- Bevollmächtigter:
- -
gegen |
a) den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 14. Juli 2017 - 29 C 915/17 (81) -, |
|
b) das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 26. April 2017 - 29 C 915/17 (81) - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Müller
und die Richterin Langenfeld
am 27. Mai 2020 einstimmig beschlossen:
- Das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 26. April 2017 - 29 C 915/17 (81) - und der Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 14. Juli 2017 - 29 C 915/17 (81) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes
- Das Urteil sowie der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.
I.
1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine amtsgerichtliche Entscheidung, durch die er zur Zahlung einer Vergütung aus einem Escort-Servicevertrag verurteilt worden ist.
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erwirkte zunächst einen Mahnbescheid über die streitige Summe, den das Amtsgericht Hünfeld - zentrales Mahngericht - gegen den Beschwerdeführer erließ. Dieser ließ durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch erheben. Das Verfahren wurde sodann gemäß § 696 Abs. 1 und 2 ZPO an das zuständige Amtsgericht Frankfurt am Main - Zivilabteilung - abgegeben.
2. Nach dem Eingang der Anspruchsbegründung ordnete das Amtsgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 23. März 2017 an, dass gemäß § 495a ZPO im schriftlichen Verfahren entschieden werde. Den Beschwerdeführer forderte es auf, binnen drei Wochen ab Zugang des Beschlusses schriftlich auf die Klage zu erwidern. Es wies darauf hin, dass ohne Einhaltung der gesetzten Frist der Prozess allein deswegen verloren werden könne; bei genügender Klärung des Sachverhalts oder Versäumung der gesetzten Frist könne ohne Bestimmung eines besonderen Verkündungstermins Endurteil nach Aktenlage ergehen. Ferner verfügte das Amtsgericht, dem Beschwerdeführer den Beschluss per Zustellungsurkunde mit einer beglaubigten Abschrift der Anspruchsbegründung zuzustellen. Der Beschluss des Amtsgerichts wurde dem Beschwerdeführer am 28. März 2017 persönlich an seiner Wohnanschrift durch Einlegung in den Briefkasten, nicht aber dem aus dem Widerspruchsformular ersichtlichen und auch im Aktenausdruck des Mahngerichts aufgenommenen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt. In der Folge reagierte der Beschwerdeführer nicht weiter.
3. Das Amtsgericht Frankfurt am Main verurteilte den Beschwerdeführer durch das angegriffene Urteil vom 26. April 2017, in dessen Rubrum der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aufgeführt war, ohne mündliche Verhandlung gemäß § 495a ZPO zur Zahlung der im Streit stehenden Summe; die Berufung wurde nicht zugelassen. Der Anspruch folge aus dem schlüssigen und unstreitig gebliebenen klägerischen Vortrag. Eine Klageerwiderung habe der Beschwerdeführer binnen der gesetzten Frist nicht eingereicht, obgleich er auf die möglichen Folgen einer Fristversäumung hingewiesen worden sei.
Obgleich eine Geschäftsstellenbeamtin die erkennende Richterin darauf hinwies, dass der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers erst nach Zustellung des Beschlusses vom 23. März 2017 ins Rubrum aufgenommen und der Beschluss an ihn nicht zugestellt worden sei, verfügte die Geschäftsstelle, zur „Verkündung durch Zustellung“ eine Urteilsabschrift dem Beschwerdeführer zuzustellen. Das Urteil wurde dem Beschwerdeführer daraufhin zu einem unbekannten Zeitpunkt persönlich , nicht jedoch seinem Prozessbevollmächtigten übermittelt.
4. Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 18. Mai 2017, welcher mit Schreiben vom 3. Juli 2017 ergänzt worden ist, lehnte der Beschwerdeführer die erkennende Richterin des Amtsgerichts wegen der Besorgnis der Befangenheit ab, erhob Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und beantragte, den Prozess vor dem Amtsgericht fortzuführen, das Endurteil vom 26. April 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Anspruchsbegründung, der prozessleitende Beschluss des Amtsgerichts sowie das Endurteil seien nicht wirksam zugestellt worden. Sein für den Rechtszug bestellter Prozessbevollmächtigter habe entgegen § 172 Abs. 1 ZPO keinerlei Zustellungen erhalten. Er habe daher keine Möglichkeit gehabt, Einwendungen gegen die Ansprüche der Klägerin geltend zu machen und unter Beweis zu stellen; er habe deren Dienste weder beauftragt noch in Anspruch genommen. Da die erkennende Richterin von der Geschäftsstelle auf die unterbliebene Zustellung an den Prozessbevollmächtigten hingewiesen worden sei, hätte sie die Zustellung des Urteilsentwurfs unterbinden müssen.
5. Das Befangenheitsgesuch erklärte das Amtsgericht Frankfurt am Main nach Einholung einer dienstlichen Erklärung der erkennenden Richterin mit Beschluss vom 11. Juli 2017 für unbegründet. Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit folgten nicht daraus, dass der Beschluss vom 23. März 2017 dem Beschwerdeführer persönlich zugestellt worden sei und die erkennende Richterin in Kenntnis dieses Umstands das Urteil, nachdem sie es auf die Geschäftsstelle gebracht habe und es durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle bereits zur Zustellung verfügt gewesen sei, in der Akte belassen und nicht mehr eingegriffen habe. Sei das Urteil so in den Geschäftsgang gelangt, dass ohne nachträgliche Entnahme aus der Verfahrensakte eine Veränderung nicht mehr möglich sei, könne auf die Entscheidung kein Einfluss mehr genommen werden.
6. Die Anhörungsrüge wies das Amtsgericht Frankfurt am Main durch die erkennende Richterin mit angegriffenem Beschluss vom 14. Juli 2017 als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführer habe seit der persönlichen Zustellung des prozessleitenden Beschlusses bis zum Erlass des Endurteils hinreichend Zeit...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN