Beschluss vom 30. Mai 2022 - 1 BvR 1012/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220530.1bvr101220 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2022 - 1 BvR 1012/20 -, Rn. 1-19, |
Date | 30 Mayo 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 1012/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1012/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…) -
gegen |
den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 30. März 2020 - S 27 AY 7/20 ER - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts |
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Baer,
Ott
und den Richter Radtke
am 30. Mai 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 30. März 2020 - S 27 AY 7/20 ER - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes, soweit die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gegenüber der Beschwerdeführerin abgelehnt wurde, und wird insoweit aufgehoben.
- Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.
- Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt (…) für das Verfassungsbeschwerdeverfahren.
I.
Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem sozialgerichtlichen Eilverfahren.
1. Die Beschwerdeführerin beantragte für sich und ihre minderjährige Tochter anwaltlich vertreten einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht gegen den Sofortvollzug eines Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids. Gegenstand waren Leistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Zeitraum Oktober bis Dezember 2019, welche die Stadt anteilig aufhob und zurückforderte, weil der Beschwerdeführerin ein pauschaler Fahrtkostenzuschuss des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemäß § 10 Abs. 1 der Verordnung über die berufsbezogene Deutschsprachförderung (DeuFöV) anlässlich der Teilnahme an einem Berufssprachkurs ausgezahlt worden war. Mit diesem als „Einkommen“ bewerteten Zuschuss sei die Beschwerdeführerin in der Lage, ihre Bedürftigkeit ganz oder teilweise abzuwenden (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch
Demgegenüber vertrat die Beschwerdeführerin vorgerichtlich und gerichtlich die Auffassung, dass eine Anrechnung des Fahrtkostenzuschusses als Einkommen gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 7 AsylbLG gesetzlich ausgeschlossen sei. Zudem sei gesetzlich nicht vorgesehen, pauschalierte Einzelbedarfe aus dem Regelbedarf – hier die in der Abteilung 7 „Verkehr“ vorgesehenen Bedarfe für „fremde Verkehrsdienstleistungen“ in Höhe von 20,77 Euro monatlich – herauszurechnen.
Die Stadt vertrat die Auffassung, es handele sich nicht um die Anrechnung von Einkommen, sondern um eine Kürzung des Regelsatzes. Die Beschwerdeführerin könne ihren Bedarf an Mobilität mit einer Monatskarte des öffentlichen Personennahverkehrs decken.
Das Sozialgericht lehnte den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs mit unanfechtbarem Beschluss vom 30. März 2020 ab. Der Bescheid der Stadt sei rechtmäßig. Der Bedarf der Beschwerdeführerin sei mit der Bewilligung des Fahrtkostenzuschusses und einer Monatskarte gedeckt. Es sei daher auch unerheblich, ob die Angelegenheit dringlich sei. Mangels Aussicht auf Erfolg sei auch der Antrag auf Prozesskostenhilfe abzulehnen.
2. Die Beschwerdeführerin rügt, dass die Ablehnung ihres Prozesskostenhilfeantrags ihre Rechte aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 19...
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