Beschluss vom 31.05.2022 - BVerwG 6 C 2.20

JurisdictionGermany
Judgment Date31 Mayo 2022
Neutral CitationBVerwG 6 C 2.20
ECLIDE:BVerwG:2022:310522B6C2.20.0
Subject MatterPolizei- und Ordnungsrecht
Registration Date18 Agosto 2022
CitationBVerwG, Beschluss vom 31.05.2022 - 6 C 2.20 -
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1,PolG NRW a. F. § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2, § 17 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2, § 8 Abs. 3
Record Number310522B6C2.20.0

BVerwG 6 C 2.20

  • VG Düsseldorf - 11.07.2016 - AZ: VG 18 K 2389/16
  • OVG Münster - 16.12.2019 - AZ: OVG 5 A 1809/16

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 31. Mai 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller, Hahn und Dr. Tegethoff sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gamp
beschlossen:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt
  2. Dem Bundesverfassungsgericht wird gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 2003 (GV. NRW S. 441), in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen vom 9. Februar 2010 (GV. NRW S. 132), sowie § 17 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 2003 (GV. NRW S. 441), in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen und des Polizeiorganisationsgesetzes vom 21. Juni 2013 (GV. NRW S. 375), mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar sind
Gründe I

1 Die Klägerin wendet sich gegen eine auch sie betreffende Datenerhebung durch längerfristige Observation sowie den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen, die vom Polizeipräsidium X am ... gegenüber Herrn B. angeordnet worden war.

2 Das Polizeipräsidium X führte Herrn B. als sogenannten Gefährder - PMK - Rechts (Politisch motivierte Kriminalität Rechts), weil er sich bereits als Jugendlicher der sogenannten Skinhead-Szene angeschlossen und wiederholt schwere Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit begangen hatte. Nach mehrfachen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen verbüßte Herr B. die Strafhaft zuletzt in der JVA Y. Seine Entlassung stand für den ... an. In Vorbereitung der Haftentlassung ordnete die Behördenleitung des Polizeipräsidiums X am ... auf Antrag ihrer für Staatsschutz zuständigen Abteilung an, den neuen Aufenthaltsort des Herrn B. ab dem Zeitpunkt seiner Entlassung für einen Monat durch eine längerfristige Observation gemäß § 16a Abs. 2 PolG NRW a. F. und den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen gemäß § 17 Abs. 2 PolG NRW a. F. zu ermitteln. Die observierenden Polizeibeamten gewannen in der Folge zahlreiche Herrn B. betreffende Daten und fertigten verschiedene Lichtbilder an. Sowohl die Observationen als auch die angefertigten Fotos bezogen teilweise Dritte mit ein, u. a. die Klägerin. Diejenigen Observationsdaten, welche die Klägerin mitbetreffen, entstanden am ... Bei diesen Observationen wurden insgesamt fünf Lichtbilder gefertigt, die auch die Klägerin abbilden. Die ersten beiden Bildaufnahmen stammen vom Tag der Haftentlassung, an dem die Klägerin Herrn B. mit weiteren Personen von der Haftanstalt abholte; anschließend fuhr die gesamte Personengruppe in einem Pkw gemeinsam zur Wohnung der Klägerin in Y. In der Folge übernachtete Herr B. regelmäßig in dieser Wohnung und verbrachte auch persönliche Gegenstände dorthin. Am ... meldete er sich beim Einwohnermeldeamt Y melderechtlich an und ließ hierbei - der dortigen Praxis für Wohnungssuchende entsprechend - die Adresse des Rathauses eintragen. Daraufhin verzichtete das Polizeipräsidium ab diesem Tag auf Observationen mit Personaleinsatz und stellte die Maßnahmen nach einigen sporadischen Verbleibkontrollen am ... insgesamt ein. Das Polizeipräsidium X informierte die Klägerin mit Schreiben vom 28. Januar 2016 - ihr am 2. Februar 2016 persönlich ausgehändigt - über die durchgeführten Maßnahmen und die Möglichkeit, nachträglichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.

3 Die Klägerin hat am 29. Februar 2016 Klage mit dem Ziel erhoben, die Rechtswidrigkeit der Datenerhebung feststellen zu lassen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 11. Juli 2016 mit der Begründung abgewiesen, die Voraussetzungen für eine Erhebung von Daten auch der Klägerin seien nach den herangezogenen polizeirechtlichen Normen, gegen die keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestünden, erfüllt gewesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht das erstinstanzliche Urteil teilweise geändert und festgestellt, dass die Observation der Klägerin am ... sowie die Anfertigung von drei Lichtbildern ihrer Person nach dem Tag der Haftentlassung des Herrn B. rechtswidrig gewesen seien. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage sei als Feststellungsklage zulässig und teilweise begründet. Die die Klägerin betreffende Datenerhebung sei zum Teil rechtswidrig gewesen. Die heranzuziehenden § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2 PolG NRW a. F. bildeten eine tragfähige Grundlage für die angeordneten Maßnahmen gegenüber Herrn B. Diese Befugnisnormen seien verfassungsgemäß. Sie griffen zwar in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Der Eingriff sei jedoch gerechtfertigt, weil die Regelungen verhältnismäßig seien und dem Grundsatz der Bestimmtheit und Normenklarheit genügten. § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Satz 2 PolG NRW a. F. dienten der Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung und somit einem legitimen Ziel. Die Befugnisse seien hierfür geeignet und erforderlich. Die Vorschriften seien unter Berücksichtigung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu heimlichen Datenerhebungen auch verhältnismäßig im engeren Sinne.

4 Es gehe um den Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter. Ziel der heimlichen Maßnahmen sei die Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung i. S. d. § 8 Abs. 3 PolG NRW a. F. Die Verhinderung der dort benannten Straftaten diene überwiegend dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit sowie der Freiheit der Person. Soweit Eigentums- und Vermögensdelikte erfasst seien, müssten diese gewerbs- oder bandenmäßig begangen werden. In dieser Form ließen sich die Delikte, die den Rechtsfrieden erheblich störten und geeignet seien, das Gefühl der Rechtssicherheit in der Bevölkerung zu beeinträchtigen, jedenfalls der mittelschweren Kriminalität zuordnen. Dem stünden geringe bis allenfalls mittlere Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber. Der Tatbestand der Eingriffsnormen sei zwar sehr weit formuliert, könne aber verfassungskonform ausgelegt werden. Der Begriff der Tatsachen in den Ermächtigungsgrundlagen sei dahingehend zu verstehen, dass diese den Schluss zum einen auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen und zum anderen darauf zulassen müssten, dass an diesem Geschehen bestimmte Personen beteiligt sein würden, über deren Identität zumindest so viel bekannt sei, dass die Überwachungsmaßnahmen gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden könnten. Diese Auslegung überschreite nicht die Grenzen zulässiger verfassungskonformer Auslegung, weil sie im tatbestandlichen Begriff "Tatsachen" angelegt sei. Sie widerspreche auch nicht dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers.

5 Der fehlende Richtervorbehalt für längerfristige Observationen und die Anfertigung von Lichtbildern führe gleichfalls nicht zur Verfassungswidrigkeit, da keine besonders schweren Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Rede stünden. Es gehe um Maßnahmen in der Öffentlichkeit, durch die Vertraulichkeitsinteressen lediglich in geringerem Maße betroffen seien. Die Anordnung längerfristiger Observationen sowie der Anfertigung von Lichtbildern führe ferner nicht typischerweise zur Erhebung kernbereichsrelevanter Daten. Auch aus der Erstreckung der Datenerhebung auf Dritte als Mitbetroffene in § 16a Abs. 1 Satz 2, § 17 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW a. F. folge keine Unangemessenheit der Eingriffsgrundlagen. Würden die Ermächtigungsgrundlagen in der beschriebenen Weise ausgelegt, entsprächen sie dem Grundsatz der Bestimmtheit und Normenklarheit.

6 Allerdings lägen die Voraussetzungen der Eingriffsbefugnisse nur zum Teil vor. Nicht zu beanstanden seien die Observationen am ... sowie die Anfertigung von zwei Lichtbildern am ... Insoweit sei die Datenerhebung gegenüber Herrn B. in rechtmäßiger Weise erfolgt. Sie könne auf § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PolG NRW a. F. gestützt werden. Bei Anordnung der Maßnahmen hätten Tatsachen die Annahme gerechtfertigt, dass Herr B. in absehbarer Zeit Straftaten von erheblicher Bedeutung habe begehen wollen. Die Datenerhebung sei zur vorbeugenden Bekämpfung dieser Straftaten erforderlich gewesen. Denn den Polizeibeamten sei es um die Ermittlung des zukünftigen Wohnorts von Herrn B. gegangen, um weitere Präventivmaßnahmen vor Ort ergreifen zu können. Die Erforderlichkeit sei auch für die beiden an dem Tag der Haftentlassung gefertigten Lichtbilder zu bejahen, da sie der Identifizierung der abgebildeten Personen gedient hätten, aus der sich Rückschlüsse für den zukünftigen Aufenthaltsort des Herrn B. hätten ergeben können. Die Datenerhebung gegenüber der Klägerin beruhe auf § 16a Abs. 1 Satz 2, § 17 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW a. F.; sie sei in rechtmäßiger Weise als "andere...

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