Urteil Nr. B 1 KR 3/19 R des Bundessozialgericht, 2019-10-08

Judgment Date08 Octubre 2019
ECLIDE:BSG:2019:081019UB1KR319R0
Judgement NumberB 1 KR 3/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Krankenversicherung - Krankenhaus - kurative Behandlung bei grundrechtsorientierter Leistung, obwohl palliative Behandlung zeitlich größeren Überlebensvorteil eröffnet - kein Vergütungsanspruch - Erfordernis der Dokumentation von Aufklärung und Einwilligung vor unkonventioneller Behandlung eines Versicherten mit hohem Mortalitätsrisiko - hier: fremd-allogene Stammzelltransplantation bei chronischer myelomonozytärer Leukämie
Leitsätze

1. Behandelt ein Krankenhaus einen Versicherten bei grundrechtsorientierter Leistung kurativ, obwohl die palliative Behandlung einen zeitlich größeren Überlebensvorteil eröffnet, hat es gegen die Krankenkasse keinen Vergütungsanspruch.

2. Für den Anspruch eines Krankenhauses gegen eine Krankenkasse auf Vergütung einer unkonventionellen Behandlung eines Versicherten mit hohem Mortalitätsrisiko muss konkret feststehen, dass, durch wen genau und wie es ihn über die abstrakten und konkret-individuellen Chancen, Risiken und die Risikoabwägung aufgeklärt hat.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Februar 2018 geändert, soweit es die Verurteilung zur Zahlung von 260 Euro übersteigt. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 116 597,47 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer Krankenhausbehandlung.

Die 1934 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versichert gewesene H. (im Folgenden: Versicherte) wurde wegen einer 2008 festgestellten, zur Gruppe der myelodysplastischen Syndrome (MDS) gehörenden myelomonozytären Leukämie (CMML I - definiert durch: weniger als 5 % Blasten im Blut und weniger als 10 % Blasten im Knochenmark) zunächst mit Bluttransfusionen behandelt. Das klagende Universitätsklinikum behandelte die Versicherte ab 30.9.2008 stationär mittels dosisreduzierter Konditionierung und nachfolgender fremd-allogener Stammzelltransplantation (SZT, 10.10.2008). Die Versicherte verstarb während des stationären Aufenthalts am 30.10.2008. Der Kläger berechnete - neben weiteren Entgeltbestandteilen - die Fallpauschale (Diagnosis Related Group - DRG) A04C (Knochenmarktransplantation / Stammzelltransfusion, allogen, außer bei Plasmozytom, ohne In-vitro-Aufbereitung, HLA-identisch; insgesamt 117 737,10 Euro abzüglich 260 Euro Zuzahlung; 9.12.2008). Die Beklagte beglich die Rechnung zumindest in Höhe von 116 597,47 Euro. Sie forderte aufgrund einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), dass die einzige kurative Behandlungsoption SZT aufgrund ihres experimentellen Charakters nur innerhalb einer klinischen Studie hätte erfolgen dürfen, zuletzt vergeblich 116 597,47 Euro zurück und rechnete in dieser Höhe mit unstreitigen Forderungen des Klägers aufgrund der Behandlung anderer Versicherter der Beklagten auf. Das SG hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 116 597,47 Euro nebst Zinsen verurteilt (Urteil vom 11.2.2015). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Dem Kläger stehe der Vergütungsanspruch zu. Er habe mit seiner Leistung den Anspruch der Versicherten gegen die Beklagte auf Versorgung mit der SZT nach den Grundsätzen über die grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts erfüllt. Die SZT habe keinen experimentellen Charakter gehabt. Sie sei die einzige kurative Behandlungsoption gewesen (transplantationsbedingte Mortalität: 30 vH, Rückfallquote: 35 vH, Heilungschance: 35 vH). Eine palliative Behandlung mit Hydroxyurea, die die Versicherte abgelehnt habe, eröffne statistisch einen Überlebensvorteil von 9 bis 15 Monaten. Wegen der konkreten Ausprägung der Erkrankung hätte die Versicherte mutmaßlich aber nicht längerfristig damit behandelt werden können. In eine klinische Studie habe die Versicherte nicht einbezogen werden können. Auch liege eine wirksame Einwilligung nach umfassender ärztlicher Aufklärung vor (Urteil vom 23.2.2018).

Die Beklagte hat im Revisionsverfahren erklärt, sie erkenne den Anspruch in Höhe der verrechneten Zuzahlung an. Sie rügt mit ihrer Revision eine Verletzung von § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V, § 7 Satz 1 Nr 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) iVm Fallpauschalenvereinbarung (FPV) 2008 und § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), § 2 Abs 1 Satz 3 und Abs 4, § 12 Abs 1 Satz 2, § 39 Abs 1, § 70 Abs 1 Satz 2 SGB V. Keine der Voraussetzungen der grundrechtsorientierten Auslegung habe vorgelegen. Insbesondere habe mit Hydroxyurea noch eine allgemein anerkannte wirksame medikamentöse Behandlungsoption bestanden. Die SZT habe bei Patienten im Alter der Versicherten experimentellen Charakter gehabt. Die Aufklärung der Versicherten sei mangelhaft und deren Einwilligung unwirksam gewesen. Jedenfalls habe das LSG es verfahrensfehlerhaft unterlassen, den Arzt als Zeugen zu vernehmen, der die Versicherte aufklärte.

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Februar 2018 und des Sozialgerichts Reutlingen vom 11. Februar 2015 zu ändern und die Klage insoweit abzuweisen, als es die Verurteilung zur Zahlung von 260 Euro übersteigt,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Februar 2018 zu ändern, soweit es die Verurteilung zur Zahlung von 260 Euro übersteigt, und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der beklagten KK ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung in Höhe von 116 337,47 Euro begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Allein dieser Betrag ist noch streitgegenständlich, denn die Beklagte hat die Revision in Höhe von 260 Euro zurückgenommen. Das angefochtene LSG-Urteil ist insoweit zu ändern, weil es auf der Verletzung materiellen Rechts beruht und sich nicht aus anderen Gründen als richtig erweist. Dem klagenden Krankenhausträger steht der im Gleichordnungsverhältnis zulässigerweise mit der (echten) Leistungsklage (stRspr; vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12) verfolgte Vergütungsanspruch aus der Behandlung anderer Versicherter zu (dazu 1.). Darüber, ob die Beklagte diesen Vergütungsanspruch in Höhe von 116 337,47 Euro dadurch erfüllte, dass sie mit einem aus der Behandlung der Versicherten resultierenden Gegenanspruch aus öffentlich-rechtlicher Erstattung wirksam aufrechnete, kann der erkennende Senat wegen fehlender Feststellungen des LSG zu den Voraussetzungen eines Vergütungsanspruchs des Klägers für die stationäre Behandlung der Versicherten nicht abschließend entscheiden. Die Aufrechnungserklärung der Beklagten bleibt dann ohne Erfüllungswirkung, wenn dem Kläger die noch streitige Vergütung von 116 337,47 Euro für die stationäre Behandlung der Versicherten zusteht. Es steht nicht fest, dass der Kläger die Voraussetzungen eines Vergütungsanspruchs dem Grunde nach erfüllte (dazu 2.). Es fehlt an Feststellungen des LSG dazu, dass die Behandlung der Versicherten den Voraussetzungen grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts genügte (dazu 3.). Soweit das LSG die Anspruchsvoraussetzungen auch insoweit bejaht hat, als es von einer wirksamen Einwilligung der Versicherten ausgegangen ist, kann der Senat mangels hinreichender Feststellungen des LSG nicht darüber entscheiden (dazu 4.). Das LSG wird die gebotenen Feststellungen nachzuholen haben. Die Sache ist nicht aus anderen Gründen entscheidungsreif.

1. Es ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig, dass der Kläger aufgrund stationärer Behandlung anderer Versicherter der Beklagten Anspruch auf die abgerechnete Vergütung von 116 337,47 Euro hatte; eine nähere Prüfung des erkennenden Senats erübrigt sich insoweit (vgl zur Zulässigkeit dieses Vorgehens zB BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 130 Nr 2 RdNr 17; BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 4 RdNr 8).

2. Rechtsgrundlage des vom Kläger wegen der stationären Behandlung der Versicherten vom 30.9. bis 30.10.2008 geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V (idF durch Art 1 Nr 3 Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser FPG> vom 23.4.2002, BGBl I 1412) iVm § 7 Satz 1 Nr 1 KHEntgG (idF durch Art 5 FPG vom 23.4.2002, BGBl I 1412) iVm der FPV 2008 iVm § 17b KHG (idF durch Art 18 Nr 4 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG> vom 26.3.2007, BGBl I 378).

Die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus (vgl § 108 Nr 2 iVm § 109 Abs 1 Satz 2 SGB V und dem Gesetz über die Universitätsklinika Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm vom 24.11.1997, GBl S 474, idF vom 15.9.2005, GBl S 625) durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (stRspr; vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; alle mwN). Die Krankenhausvergütung dient als Gegenleistung für die Erfüllung der Pflicht des zugelassenen Krankenhauses, Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V) dem Versicherten im Rahmen des Versorgungsauftrags (bei Hochschulkliniken: § 8 Abs 1 Satz 4 Nr 2 KHEntgG) zu leisten. Die Leistung des Krankenhauses ist nämlich zur Erfüllung des Leistungsanspruchs des Versicherten bestimmt (vgl BSG Großer Senat BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 10). Hierzu definiert § 2 Abs 2 Satz 1 KHEntgG (idF durch Art 5 FPG): "Allgemeine Krankenhausleistungen sind die Krankenhausleistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit...

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