Urteil Nr. B 1 KR 25/20 R des Bundessozialgericht, 2021-03-25

Judgment Date25 Marzo 2021
ECLIDE:BSG:2021:250321UB1KR2520R0
Judgement NumberB 1 KR 25/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Krankenversicherung - Kostenerstattung - Liposuktion - partielle Einschränkung des Qualitätsgebots bei Krankenhausbehandlung mit dem Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative - restriktive Auslegung außerhalb einer Erprobungs-Richtlinie - Voraussetzungen eines Anspruchs vor Erlass einer Erprobungs-Richtlinie
Leitsätze

1. Die ab 23. Juli 2015 geltenden Regelungen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes (juris: GKV-VSG) über Krankenhausbehandlungen, die das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative haben, beinhalten eine partielle Einschränkung des Qualitätsgebots und eröffnen Versicherten einen Anspruch auf solche Krankenhausbehandlungen auch außerhalb von Erprobungs-Richtlinien (Aufgabe der stRspr des BSG vom 24.4.2018 - B 1 KR 13/16 R = BSGE 125, 262 = SozR 4-2500 § 137e Nr 1, vom 24.4.2018 - B 1 KR 10/17 R = BSGE 125, 283 = SozR 4-2500 § 137c Nr 10 und vom 28.5.2019 - B 1 KR 32/18 R = BSG SozR 4-2500 § 137c Nr 13).

2. Zur Gewährleistung ausreichenden Versichertenschutzes sind die Regelungen über Ansprüche auf Leistungen, die das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative haben, restriktiv auszulegen, wenn sie außerhalb der Teilnahme an einer Erprobungs-Richtlinie erbracht werden.

3. Versicherte haben vor Erlass einer Erprobungs-Richtlinie Anspruch auf die Versorgung mit Potentialleistungen nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, wenn es 1. um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Standardbehandlung verfügbar ist, und wenn 3. die einschlägigen Regelungen der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Annahme eines Potentials erfüllt sind.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. November 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten zweier stationärer Liposuktionen (Fettabsaugungen) zur Behandlung des Lipödems der Klägerin.

Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte, 1997 geborene Klägerin beantragte am 29.4.2016 befundgestützt die Versorgung mit zwei stationären Liposuktionen im Bereich der Beine und der Oberarme. Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer gutachtlichen Stellungnahme, informierte die Klägerin hierüber (Schreiben vom 29.4.2016) und lehnte den Antrag nach negativer MDK-Stellungnahme ab (Bescheid vom 19.5.2016; Bekanntgabe am 21.5.2016; Widerspruchsbescheid vom 7.10.2016). Während des Widerspruchsverfahrens erfolgte die erste stationäre Liposuktion, während des Klageverfahrens die zweite. Die Klägerin hat dafür die Erstattung von insgesamt 9384,68 Euro begehrt. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.6.2017). Das LSG hat unter Bezugnahme auf das Urteil des erkennenden Senats vom 24.4.2018 (B 1 KR 13/16 R - BSGE 125, 262 = SozR 4-2500 § 137e Nr 1) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs 3 SGB V seien nicht erfüllt. Stationäre Liposuktionen gehörten nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV); sie erfüllten das auch für den Anspruch auf Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V geltende Qualitätsgebot des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V nicht. § 137c Abs 3 SGB V senke das Qualitätsgebot nicht ab. Auch aus § 2 Abs 1a und § 13 Abs 3a Satz 7 SGB V ergebe sich kein Kostenerstattungsanspruch (Urteil vom 27.11.2018).

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 137c Abs 3 Satz 1 SGB V und des Art 3 Abs 1 GG. GKV-Versicherte hätten in der stationären Versorgung immer schon dann Anspruch auf Behandlungs- und Untersuchungsmethoden, wenn diese das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative böten. Dies folge aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 137c Abs 3 SGB V.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. November 2018 und des Sozialgerichts Würzburg vom 20. Juni 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2016 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 9384,68 Euro zu verurteilen,

hilfsweise,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. November 2018 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann nicht abschließend darüber entscheiden, ob der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung der Kosten der von ihr selbst bezahlten stationären Liposuktionsbehandlungen zusteht.

Das LSG hat einen Kostenerstattungsanspruch aufgrund der Genehmigungsfiktion gemäß § 13 Abs 3a Satz 7 SGB V auf der Grundlage der von ihm getroffenen - den Senat bindenden - Feststellungen zutreffend verneint. Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch kommt deshalb nur § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V in Betracht. Voraussetzung dafür ist, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung - wie von ihr behauptet - Anspruch auf die Liposuktionsbehandlungen als Naturalleistungen nach § 39 Abs 1 SGB V hatte (vgl zB BSG vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 11 mwN - LITT; BSG vom 17.12.2019 - B 1 KR 18/19 R - BSGE 129, 290 = SozR 4-2500 § 138 Nr 3, RdNr 8, stRspr). Die Krankenhausbehandlung umfasst im Rahmen des Versorgungsauftrags des Krankenhauses alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung der Versicherten im Krankenhaus notwendig sind (§ 39 Abs 1 Satz 3 SGB V). Dies setzt hier voraus, dass die Liposuktionen dem maßgeblichen Qualitätsgebot entsprachen, die vollstationäre Leistungserbringung erforderlich war (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB V) und die Leistungen insgesamt wirtschaftlich (§ 12 Abs 1 SGB V) erbracht wurden. Ob diese Voraussetzungen im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Liposuktionen durch die Klägerin vorlagen, kann der Senat auf der Grundlage der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden.

Die Liposuktion als Behandlungsmethode war im Zeitpunkt der Behandlung der Klägerin nicht durch einen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) vom GKV-Leistungskatalog ausgenommen (dazu 1). Die Klägerin hatte weder einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihre Berücksichtigung beim Auswahlverfahren für die Teilnahme an einer Erprobung der Liposuktion im Rahmen eines Verfahrens nach § 137e SGB V (dazu 2.) noch hatte sie einen Anspruch auf Grund einer sonstigen Richtlinie (RL) des GBA (dazu 3.). Die Liposuktion genügt nicht den allgemeinen Qualitätsanforderungen des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V (dazu 4.). Die Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB V hat das LSG zutreffend verneint; insoweit verzichtet der Senat auf weitere Ausführungen. In Betracht kommt aber ein Anspruch nach Maßgabe des § 137c Abs 3 SGB V, der das allgemeine Qualitätsgebot partiell einschränkt (dazu 5.).

1. Der Anspruch der Klägerin auf die von ihr selbst beschafften Liposuktionsbehandlungen war nicht bereits auf Grund einer negativen RL des GBA ausgeschlossen.

Der GBA überprüft auf Antrag Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der gesetzlichen KKn im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden oder angewandt werden sollen, darauf, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind (§ 137c Abs 1 Satz 1 SGB V). Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode nicht hinreichend belegt ist und sie nicht das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, insbesondere weil sie schädlich oder unwirksam ist, erlässt der GBA eine entsprechende RL, wonach die Methode nicht mehr zu Lasten der KKn erbracht werden darf (§ 137c Abs 1 Satz 2 SGB V). Eine solche - negative - RL hat der GBA zur Liposuktionsbehandlung bislang nicht erlassen.

2. Die Klägerin hatte, als sie die Liposuktionen durchführen ließ, gegen die Beklagte auch keinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihre Berücksichtigung beim Auswahlverfahren für die Liposuktion im Rahmen der Teilnahme an einer Erprobungs-Richtlinie (Erp-RL) nach § 137e SGB V.

Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, beschließt der GBA eine Erp-RL nach § 137e SGB V (§ 137c Abs 1 Satz 3 SGB V). Aufgrund einer solchen RL wird die Untersuchungs- oder Behandlungsmethode in einem befristeten Zeitraum im Rahmen der Krankenbehandlung zu Lasten der KKn erbracht (§ 137e Abs 1 Satz 2 SGB V). § 137e Abs 2 SGB V regelt die näheren Bedingungen der Leistungserbringung. Versicherte haben Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihre Berücksichtigung beim Auswahlverfahren für die Teilnahme an einer Erp-RL nach § 137e SGB V (vgl BSG vom 24.4.2018 - B 1 KR 13/16 R - BSGE 125, 262 = SozR 4-2500 § 137e Nr 1, RdNr 27 ff; BSG vom 28.5.2019 - B 1 KR 32/18 R - SozR 4-2500 § 137c Nr 13 RdNr 37 ff).

Diese Voraussetzungen waren im Zeitpunkt der Liposuktionsbehandlungen der Klägerin (6. bis 9.9.2016; 25. bis 27.1.2017) nicht erfüllt, denn es fehlte damals noch an der erforderlichen Erp-RL. Der GBA hat seine nach § 94 Abs 2 Satz 1 SGB V im Bundesanzeiger bekanntzugebende RL "zur Erprobung der Liposuktion zur Behandlung des Lipödems" erst am 18.1.2018 mit Wirkung zum 10.4.2018 erlassen (Erp-RL Liposuktion>, BAnz AT 9.4.2018 B1; zum Wirksamwerden einer RL vgl BSG vom 19.2.2002 - B 1 KR 16/00 R - SozR 3-2500 § 92 Nr 12 S 70 = juris RdNr 21). Im Behandlungszeitpunkt lag nur ein sektorenübergreifender...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT