Urteil Nr. B 1 KR 7/22 R des Bundessozialgericht, 2023-01-24

Judgment Date24 Enero 2023
ECLIDE:BSG:2023:240123UB1KR722R0
Judgement NumberB 1 KR 7/22 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2021 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten eines von der Klägerin selbst beschafften Fertigarzneimittels.

Die Klägerin ist Versicherte der beklagten Krankenkasse (KK). Am 25.9.2015 wurde bei ihr eine Primärinfektion mit dem humanen Zytomegalievirus (CMV) festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in der neunten Schwangerschaftswoche. Am 5.10.2015 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest (CMV-Hyperimmunglobulin als Infusionslösung, im Folgenden Cytotect). Cytotect ist in Deutschland zur Prophylaxe einer CMV-Infektion im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie insbesondere nach Organtransplantationen arzneimittelrechtlich zugelassen. Eine Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur lag nicht vor. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 5.10.2015, Widerspruchsbescheid vom 1.12.2015). Die Klägerin beschaffte sich das Arzneimittel selbst und wendete hierfür insgesamt 8753,55 Euro auf (Infusionen am 7.10.2015, 22.10.2015 und 18.11.2015).

Das SG hat die Beklagte zur Zahlung dieses Betrages nebst Zinsen verurteilt (Urteil vom 21.3.2018). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, die Klägerin mit Cytotect zu versorgen. Das Fertigarzneimittel sei in Deutschland bzw der EU nicht für den gewählten Anwendungsbereich zugelassen. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Versorgung im Rahmen eines Off-Label-Use, da im Jahr 2015 weder eine abgeschlossene Phase III-Studie zum Einsatz von CMV-Hyperimmunglobulin während der Schwangerschaft vorgelegen noch in einschlägigen Fachkreisen aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlicher Aussagen Konsens über einen Nutzen im neuen Anwendungsgebiet bestanden habe. Ein Leistungsanspruch habe auch nicht nach § 2 Abs 1a SGB V bestanden. Zwar habe wegen des Infektionsrisikos für das Kind eine Krankheit vorgelegen. Selbst wenn es zu einer Infektion des ungeborenen Kindes komme, sei eine solche aber weder lebensbedrohlich noch regelmäßig tödlich verlaufend noch zumindest wertungsmäßig hiermit vergleichbar, da die Wahrscheinlichkeit der Risikoverwirklichung zu gering sei. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die CMV-Infektion keinen schweren Schaden erleiden werde, liege statistisch etwa bei 84 Prozent und sei deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen CMV-bedingten Schädigung, die zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich gewesen sei. Schließlich habe es auch an einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf gefehlt.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 2 Abs 1a SGB V, Art 2 Abs 2 GG sowie § 128 Abs 1 SGG. Zu Unrecht habe das LSG einen Sachleistungsanspruch verneint. Eine notstandsähnliche Situation habe vorgelegen, da die Virusübertragung auf das ungeborene Kind jederzeit habe erfolgen können. Der Fall der Klägerin gebiete es, das Leistungsrecht des SGB V aus Gründen des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes des ungeborenen Lebens anzupassen. Die Möglichkeit schwerwiegender, irreversibler Schädigungen und des Versterbens habe im Raume gestanden. Das LSG habe eine zu geringe Infektionswahrscheinlichkeit festgestellt, sie liege bei bis zu 45 Prozent. Auch die Wahrscheinlichkeit schwerer Schäden oder des Versterbens liege mit mehr als 25 Prozent deutlich höher als vom LSG angenommen. Das LSG überhöhe die rechtlichen Anforderungen und weiche mit der Forderung einer "überwiegenden Wahrscheinlichkeit" von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab. Ausreichend sei danach eine "große Wahrscheinlichkeit", die hier vorgelegen habe. Das LSG verkenne zudem den präventiven Charakter von § 2 Abs 1a SGB V; eine Infektion des Kindes dürfe nicht abgewartet werden. Schließlich gehe das LSG fehlerhaft davon aus, dass die gewählte Therapie weniger als eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf geboten habe. Studiendaten würden Indizien für einen Therapieerfolg von Cytotect aufzeigen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2021 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. März 2018 zurückzuweisen,

hilfsweise,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2021 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG das stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die auf die Erstattung der Kosten des von der Klägerin selbst beschafften Arzneimittels nebst Zinsen gerichtete Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Klägerin steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu.

Als Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch kommt allein § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Danach hat die KK, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, die Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Dieser Kostenerstattungsanspruch reicht in beiden Alternativen nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl BSG vom 2.9.2014 - B 1 KR 3/13 R - BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 15 mwN). Daran fehlt es. Der Klägerin stand auf der Grundlage der nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen und den Senat deshalb bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG kein Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit dem Arzneimittel Cytotect zu.

1. Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 31 Abs 1 SGB V). Nach § 31 Abs 1 SGB V können die Versicherten jedoch auch während Schwangerschaft und Entbindung grundsätzlich nur die Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll (stRspr; vgl BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 11; BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 13, jeweils mwN). Nach den Feststellungen des LSG bestand jedoch eine arzneimittelrechtliche Zulassung von Cytotect für die Prophylaxe klinischer Manifestationen einer CMV-Infektion bei Patienten nur im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie, insbesondere nach Organtransplantationen, nicht aber bei Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Kindes.

2. Es kann dahinstehen, ob für die schwangere Klägerin ein Anspruch auf Arzneimittelversorgung nach § 24c Nr 2 iVm § 24e Satz 1 SGB V in Betracht gekommen wäre.

Insofern kann offenbleiben, ob die Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft nach §§ 24c ff SGB V auch kurative Leistungen zur Behandlung eines pathologischen Zustandes umfassen und insoweit den Regelungen über die Leistungen bei Krankheit gemäß §§ 27 ff SGB V vorgehen (verneinend BSG vom 15.9.1977 - 6 RKa 6/77 - SozR 5532 § 3 Nr 1 S 4 = juris RdNr 16; Meßling in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 24d SGB V RdNr 27 ff, Stand 2019; bejahend Hessisches LSG vom 25.10.2016 - L 1 KR 201/15 - juris RdNr 42; LSG Baden-Württemberg vom 7.5.2014 - L 5 KR 898/13 - juris RdNr 32 ff). Darauf kommt es vorliegend nicht an. Denn auch im Rahmen der Verweisung des § 24e Satz 2 auf § 31 SGB V besteht nur Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln, die für die jeweilige Indikation zugelassen sind.

3. Dasselbe gilt - unabhängig von Abgrenzungsfragen zu Ansprüchen nach §§ 24c ff und §§ 27 ff SGB V - auch für Ansprüche im Rahmen einer Vorsorgebehandlung nach § 23 Abs 1 SGB V (vgl § 23 Abs 3 iVm § 31 SGB V).

4. Die Klägerin konnte die Versorgung mit Cytotect auch nicht im Rahmen eines Off-Label-Use iVm einer der vorgenannten Anspruchsgrundlagen beanspruchen.

a) Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) hat den Einsatz von Cytotect zur Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Kindes nicht auf der Grundlage einer Empfehlung nach § 35c Abs 1 SGB V in der Richtlinie nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V zugelassen (vgl Anlage VI zu Abschnitt K der Arzneimittel-Richtlinie vom 18.12.2008/22.1.2009, BAnz 2009, Nr 49a , in der hier maßgeblichen, ab 5.5.2015 geltenden Fassung des Beschlusses vom 19.2.2015, BAnz AT vom 4.5.2015 B1). Die Behandlung erfolgte auch nicht im Rahmen einer klinischen Studie iS des § 35c Abs 2 SGB V.

b) Auch die Voraussetzungen für die daneben weiterhin anwendbaren, allgemeinen, vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zulasten der GKV liegen nicht vor (zu diesen Voraussetzungen vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 1/16 R - BSGE 122, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 28, RdNr 26 - IVIG; BSG vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 14 - Avastin; v...

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